Spitze Feder

Vulnerable Resilienz

zwei alte Menschen gehen spazieren

Cool, oder? Schon in der Headline gleich zwei ehrfurchteinflößende Blubber-Blasen aus dem Almanach für Work-Life-Balance-Coaches (m, w, d), die über den allerletzten Bildungsweg, doch noch zu einer wohlklingenden Berufsbezeichnung gefunden haben, auf die Oppa und Omma stolz sein können. Hierzu später mehr.

Wie dem auch sein, sie grassieren, wie Hundeflöhe…also besagte Blubber-Blasen, nicht die Work-Life-Balance-Coaches. Wobei…?

Man kann sich zwar darüber aufregen, dass es immer wieder solche Terror-Anschläge auf unseren deutschen Sprachschatz gibt, aber es nutzt nix. Man muss sich mit dem Potemkinschen Sprech auseinandersetzen, um nicht Gefahr zu laufen, davon sediert zu werden und dadurch ebenfalls diesen zeitgeistlichen Lippenmüll abzusondern.

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Da ich trotz mehrmaligem, intensivem Studium meiner Asterix-Sammlung, keine erhellenden Aphorismen des Altlateiners auf dem Piratenschiff gefunden habe, nehme ich mir die Freiheit, (hoffentlich) passende Kontexte für besagte Blubber-Blasen zu kreieren, um die geneigte Leserschaft zu fragen, ob sie diesen Neusprech ebenfalls so schütteln würde…oder doch eher rühren.

Nachdem nun die Ouvertüre geträllert wäre, folgt das eigentliche Drama:

1. Akt: Vulnerabilität

Als Corona noch die Überschriften aller Medien beherrschte, hörte man pausenlos den Aufruf des RKI an die Bevölkerung, dass man vulnerable Gruppen schützen müsse. Mir ist noch heute schleierhaft, weshalb sich dieses Flehen beinahe ausschließlich auf die Bewohnerinnen und Bewohner der Alten- und Pflegeheime bezog.

Wer hätte auch je daran gedacht, dass ausgerechnet alte Menschen vulnerabel sein könnten, obwohl man so um ihr physisches Wohlergehen besorgt ist und sie deshalb in Häusern, speziell dafür eingerichteter, hochprofessionell im Markt operierender Anbieter, mit den besten Bewertungen bei den einschlägigen Vergleichsportalen unterbringt? Etwas mehr Empathie sollte die sorgende Tochter und/oder der sorgende Sohn seitens der Gesellschaft doch erwarten dürfen, nicht wahr? Schließlich kosten die Services dieser Anbieter ein Vermögen. Dies aber zu Recht!

Denn der Oppa und die Omma haben dort für die 4.000 € pro Monat nämlich wirklich alles, was sie aufgrund ihrer vermeintlichen Vulnerabilität brauchen. Sie haben ihr eigenes, seniorengerecht eingerichtetes Appartement mit Bad. Sie bekommen drei Mahlzeiten am Tag. Nachmittags gibt’s sogar noch ein Käffchen mit Diät-Kuchen; und danach dürfen sie mit Gummibällen etwas für die körperliche Fitness und die Beweglichkeit tun, oder sich bei allerlei Brettspielen, Gedichtrezensionen und/oder Singkreisen musisch betätigen.

Plagt sie ein Zipperlein, werden sie von promovierten Medizinern behandelt, die sich durch ihr Studium profundes Wissen in Geriatrie angeeignet haben. Oppa und Omma werden gebadet, frisiert und/oder rasiert, sie können Maniküre und Pediküre genießen, und falls bei ihnen je mit dem Stuhle, oder mit der Blase, Irritationen inkontinenter Art auftauchen sollten, werde sie umgehend mit speziellen Hygieneartikeln versorgt.

Des Nachts wachen die gütigen Augen und Ohren des Pflegepersonals über ihren Schlummer. Sollten Oppa und Omma aufwachen und Hilfe benötigen, wird ihnen diese auch umgehend zuteil. Es sein denn, die Pflegerin, oder der Pfleger, müssen sich auf einen Schlag um alle zwanzig ihnen zugeteilten Oppas und Ommas kümmern. Dann kann es schon mal ein, zwei Stündchen dauern, bis sie an der Reihe sind. Aber zum einen, haben Oppa und Omma ja ohnehin sonst nix vor, und zum anderen sind solche Koinzidenzen gottlob ja recht selten. Deshalb erscheint mir das ganze Gehabe um die Vulnerabilität älterer Mitmenschen auch etwas überzogen.

2. Akt: Resilienz

Es gibt aus Flora und Fauna bekanntlich Unmengen an invasiven Arten, die sich durch Handel und Reiseverkehr, als Beiladung, oder Souvenir der besonderen Art, auf dem ganzen Globus ausbreiten. Seit sich die Temperaturen in Deutschland in Richtung mediterrane Verhältnisse bewegen, findet man durch besagte globale Reisetätigkeit, nun auch hierzulande solch possierliche Tierchen, wie beispielsweise die asiatische Tigermücke. Eingedenk des Umstandes, dass diese Mücken so einiges an Unbilden, wie Dengue-Fieber, West-Nil-Fieber, Gelbfieber, etc., übertragen, wäre der Ausdruck „Bereicherung“, im Sinne von Artenvielfalt, in diesem Falle wohl als Euphemismus einzuordnen.

Mein Favorit unter den invasiven Arten, die die Vielfalt unseres Wortschatzes so ungemein erweitern, ist „Resilienz“. Es gibt kaum eine Berufsgruppe, die Resilienz nicht in irgendeinem Zusammenhang mit dem eigenen Tun erwähnt, und sei es auch noch so an den Haaren…oder so ähnlich. Auf der anderen Seite kann Resilienz in freier Übersetzung für alles Mögliche stehen.

Insofern ist es in der kalten Jahreszeit durchaus empfehlenswert, die Resilienz des Unterbodens seines Autos gegen Auftausalze, mittels eines geeigneten Coatings, oder die Wärmeisolierung der evolutionär zusehends schwindenden Körperbehaarung des Homo Sapiens, durch textile Additive zu stärken. Zieht man sämtliche Bedeutungen und Sub-Bedeutungen des Lehnwortes in Betracht, mutiert Resilienz zu einem wahren Tausendsassa.

Was jedoch nie in Vergessenheit geraten darf, ist der Umstand, dass man für seine Resilienz immer etwas tun muss. Verwendet man sie im Sinne von Widerstandskraft ein, muss sie unbedingt gestärkt werden. Am besten nachhaltig. Beispielsweise durch entsprechende Webinare bei erfahrenen Coaches. Im Sinne von Anpassungsfähigkeit, muss Resilienz ebenfalls unbedingt und nachhaltig gestärkt werden, beispielsweise durch entsprechende Webinare bei erfahrenen Coaches. Resilienz ist wahrscheinlich die verletzlichste und zarteste Versuchung, seit es Möbius-Schleifen gibt.

Aber was ist, wenn die Resilienz der Resilienz, trotz einer fortwährenden Stärkung in entsprechenden Webinaren bei erfahrenen Coaches, vulnerabel wird? Ich habe hierzu bis zur Stunde im Netz noch kein probates Mittel zum Gegensteuern gefunden. Das mag vielleicht daran liegen, dass neue, invasive Begriffe, wie eben Vulnerabilität und Resilienz, für die Bereicherung unseres Sprachschatzes eben einfach noch zu neu sind, zu wenig Zeit hatten, ihren Segen vollumfänglich zu entfalten.

Da Vulnerabilität und Resilienz jedoch nicht zu Unwörtern des Jahres gekürt wurden, darf davon ausgegangen werden, dass sie sehr bald in den Leistungskursen Deutsch der Mittelstufen auftauchen. Vielleicht um die Resilienz der angehenden Coaches und Unternehmensberaterinnen und Unternehmensberater gegen das Profane des echten Lebens…oder so ähnlich.

Letzter Akt: Durchschneiden der Möbius-Schleife nach Aristoteles

Bis zur vollständigen und nachhaltigen Inklusion der beiden Wörter „Vulnerabilität“ und „Resilienz“ in den deutschen Sprachgebrauch, also auch außerhalb des Wirkens von Work-Life-Balance-Coaches, kann ich nur empfehlen, sich bei eventuellen Risiken und Nebenwirkungen jener Lehnwörter, an unzweideutigen Aussagen aus der Literatur zu orientieren. Zum Beispiel: „Ich bin nicht dick“, oder „Die spinnen, die Römer“.

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Diese Kolumne schreibt vorwiegend Peter Grohmüller seine Gedanken zur Welt und dem Geschehen unserer Zeit auf.
Seine fein geschliffenen „Ergüsse“ – wie er selbst sie nennt – erfreuen sich großer Beliebtheit.

Hin und wieder erscheinen in dieser Kolumne auch Beiträge anderer Autoren, die dann jeweils entsprechend genannt werden.

Die Texte sind Satire, Kommentare und Kolumnen. Es handelt sich um persönliche, freie Meinungsäußerung.

Für die Texte ist der jeweilige Autor verantwortlich.

Lesezeit ca.: 7 Minuten | Tippfehler melden | Peter Grohmüller: © 20. Dezember 2022

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