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Frau Ruckdäschl zieht den Kürzeren!

frau ruckdäschl

Es klopft an meiner Wohnungstüre. Ich hasse es, wenn jemand an meine Wohnungstüre schlägt und deshalb bin ich schon gereizt, als ich sie öffne.

Draußen steht Herr Flädele und ist ganz aufgeregt.

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„Isch glaab die Fraa Ruckdäschl hot sisch was angedu!“

Er ist also der Meinung, unsere selbsternannte Concierge vom Parterre, Frau Ruckdäschl, habe sich etwas angetan. Meinetwegen, die wurde mir sowieso lästig, denke ich und will die Wohnungstür schon wieder zumachen, ohne etwas zu sagen, doch Herr Flädele hat Tränen in den Augen und sagt:

„Do misse mer was tun!“


„Wie kommen Sie denn darauf, daß sich ausgerechnet Frau Ruckdäschl etwas angetan haben könnte?“

„Die hot gesacht, sie hät jetzt de Körzere gezoge.“

„Sie hat den Kürzeren gezogen?“

„Hajo!“

Hajo ist in diesem Fall nicht die Kurzform von Hans-Joachim, sondern das Universalwort der hiesigen Eingeborenen. Hajo heißt eigentlich soviel wie ‚Ach ja‘ oder ‚Ah ja‘. Es wird aber in jeder Lebenslage verwendet und zwar um die ganze Palette aller Gefühle auszudrücken.

Hajo passt immer! Auf dem Höhepunkt rufen die Frauen hier in der Gegend auch „Hajo, hajo, hajo“, genauso wie sie mit einem bedauernden Unterton Hajo sagen, wenn sie erfahren, daß ein lieber Verwandter gestorben ist.

Hajo sagt also auch Herr Flädele und schaut mich aus waidwunden Augen an. Offenbar hat Frau Ruckdäschl sich dahingehend geäußert, bei irgendwas den Kürzeren gezogen zu haben und daraus schließt Herr Flädele nun, sie wolle sich etwas antun oder habe es bereits getan.

„Aber Herr Flädele, nur weil die gesagt hat, sie habe den Kürzeren gezogen, können Sie doch nicht glauben, daß die sich etwas antut“, beruhige ich unseren Nachbarn
Der beugt sich vor, schaut sich kurz um und sagt dann im Flüsterton: „Sie hot aach noch gesaat, dess sie sisch an ennem Faden uffhänge will.“

Das klingt schon etwas ernsthafter, bringt mich aber auch noch nicht aus der Ruhe und ich will Herrn Flädele nun doch wegschicken, da dringt ein penetranter, übelriechender Gestank in meine Nase.

„Wonach riecht es denn hier?“

„Sehe Sie! Des kummt unne aus der Wohnung vunn der Ruckdäschl, des is schunn die Verwesung!“

„Also, lieber Mann, wenn sich unsere Frau Ruckdäschl heute nachmittag tatsächlich an einem Faden aufgehängt haben sollte, dann fängt sie nicht sofort an zu verwesen, so ein Unsinn!“

„Kumme Sie, kumme Sie, mer misse was mache!“ drängt Herr Flädele und widerwillig nehme ich meinen Wohnungsschlüssel vom Haken und gehe mit ihm hinunter.

Tatsächlich, der Wohnung vion Frau Ruckdäschl entströmt ein ekelhafter Geruch, nach verbranntem Fett oder brennender Kuhscheiße. Außerdem hört man leise Musik und ich erkenne, daß da Wolfgang Sauer singt, der deutsche Stevie Wonder der 50er Jahre.

„Da läuft doch Musik“, sage ich zu Herrn Flädele.

„Hajo, sehe Sie! Die hot sisch ihr Lieblingsmusik uffgelegt un sisch donn annem Fade uffgehängt weil sie de Körzzere gezoche hot!“

„Wissen Sie was, Herr Flädele, wir klingeln da jetzt mal!“

„Des konn mon doch net mache!“ protestiert mein Nachbar, „des wär‘ doch Störung der Totenruhe oder so ebbes!“

„Wir wissen doch noch gar nicht, ob sie wirklich tot ist.“

In diesem Moment geht die Haustüre auf und Herr und Frau Kleiberle vom zweiten Obergeschoß gesellen sich zu uns.

Ob da was passiert sei, will Herr Kleiberle wissen und Herr Flädele setzt die beiden von den dramatischen Entwicklungen um Frau Ruckdäschl in Kenntnis.

„Hajo“, sagt Frau Kleiberle, „des hott ja so komme misse.“

Mir wird das Ganze zu blöd und ich drücke auf den Klingelknopf neben Frau Ruckdäschls Wohnungstür. Erschreckend laut bimmelt die Schepperglocke in Frau Ruckdäschls Wohnung.
Vor der Türe herrscht atemloses Schweigen, die Spannung zerrt an unseren Nerven.

Frau Kleiberle nickt vielsagend und ihr Mann macht ein betroffenes Gesicht und sagt: „Hajo!“

Herr Flädele reibt sich die Hände und schaut beifallsheischend in die Runde, seine Augen scheinen zu sagen: „Seht ihr, ich habe es Euch doch gleich gesagt!“

Dann geht plötzlich die Wohnungstür von Frau Ruckdäschl auf und ich gestehe, daß auch ich im ersten Moment zusammenzucke.

Vor uns steht ebenso lebendig, wie in voller Lebensgröße (was bei Frau Ruckdäschl nicht viel ist) eben diese Frau Ruckdäschl.

„Ei, Sie lebe‘ ja!“ staunt Herr Kleiberle.

„Des kann man wohl sage‘, isch klebe überall!“ antwortet Frau Ruckdäschl, die wohl etwas schlecht hört, was heute insbesondere daran liegt, daß sie sich ein Kopftuch so umgebunden hat, daß auch ihre Ohren verdeckt sind.

Fragend schaut die Ruckdäschl uns alle der Reihe nach an, vermutlich will sie wissen, was wir von ihr wollen.

Um die Situation zu entspannen, frage ich sie: „Was machen Sie eigentlich? Hier riecht es so komisch.“

„Des hebb‘ isch doch vorhin dem Herrn Flädele schunn verzählt! Isch tu Kerzze ziehe und häng die donn annem Fade‘ uff!“

„Sie ziehen Kerzen?“ frage ich nach und die Ruckdäschl nickt heftig, macht eine einladende Handbewegung und wir treten, ihr auf dem Fuße folgend, ein. In der Küche hängt die Luft voller dunstiger Schwaden, an den Fensterscheiben läuft Schwitzwasser herunter und auf dem Herd brodelt ein riesiger Topf aus dem es penetrant riecht.

Frau Ruckdäschl beginnt darin herumzurühren, was die Geruchslage nicht gerade verbessert. Nebenan steht ein Schneidebrett, auf dem sie Schweineschwarten und Rindsknochen zerteilt hat.

„Isch koch‘ Talg“, erklärt sie und fährt fort, „und da tauch isch dann einen Faden ein un zieh‘ mir Kerzze, die häng isch donn do driwwe annem Fade‘ uff.“

„Warum um alles in der Welt ziehen Sie sich aus Talg Kerzen?“ frage ich nach.

„Na höre‘ Sie! Jetzat, wo die uns die Glühberne verbiete‘ wolle‘!“

Schlagartig wird mir klar, was vorgefallen ist. Frau Ruckdäschl hat gehört, daß langfristig die herkömmlichen Glühbirnen abgeschafft werden sollen, hat wieder einmal ihre eigenen Schlüsse daraus gezogen und angenommen, man dürfe jetzt überhaupt keine elektrische Beleuchtung mehr verwenden. Deshalb hatte sie begonnen, Kerzen zu ziehen, zum Trocknen an einem Faden aufzuhängen und davon hatte sie Herrn Flädele erzählt, der alles mal wieder ein wenig falsch verstanden hatte.


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Lesezeit ca.: 8 Minuten | Tippfehler melden | Peter Wilhelm: © 28. Februar 2007 | Revision: 26. November 2012

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