Geschichten

Entspannte Weihnachten

Weihnachten Pixabay

Mein sogenannter Schwiegervater hat vorsichtig angefragt, wie wir uns denn dieses Jahr den Ablauf der Weihnachtsfeiertage vorstellen. In seine Planungen bezieht er uns und unsere Wünsche immer sehr feinfühlig ein.
So sagte er: „Heiligabend seid ihr bei uns, ich mache einen Hasen! Ist ja klar, daß ihr am ersten Feiertag zum Mittagessen kommt und am zweiten zum Kaffee.“

Nee, ist klar!

So macht er das seit Jahren und wir machen das seit Jahren nicht so, wie er will. Das hängt einerseits damit zusammen, daß so ein mittlerer Hase nicht für sechs Personen reicht und Schwiegermutter Magda auch stets abgezählte sechs Knödel dazumacht.
Andererseits ist der offerierte Hase ein Wildhase, den Gustav von einem Jäger bekommt. Hierbei muß es sich um den letzten Hasen der Saison handeln, auf den mindestens 20 Jäger gleichzeitig angelegt haben. Jedenfalls wiegt der Hase allein schon durch die vielen Bleikügelchen mindestens ein Kilo mehr.

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Bei Tisch geht dann die große Spuckerei los und man muß um den Bestand seiner Zähne fürchten.
Das Blödeste an Gustavs und Magdas Weihnachten ist aber, daß sie keinen Tannenbaum haben. Da steht lediglich so ein 30 cm großer Plastiktannenbaum mit Blinkelichtern auf der Fensterbank.
Da Gustav niemals kocht, außer am Heiligen Abend, wenn er von morgens acht Uhr bis abends 18 Uhr den Hasen malträtiert, schafft er es, Magdas Küche in ein Schlachtfeld zu verwandeln. Dutzende Töpfe türmen sich und die ganze Anrichte liegt voll mit diversen Küchenutensilien. Darunter befinden sich auch jene Gegenstände, die zum Teil auch in unserer Küche vorkommen, deren Sinn ich aber niemals verstanden habe.

Entsprechend ist die Laune der Schwiegermutter, die natürlich den ganzen Tag vor Augen hat, daß sie dieses Chaos wieder aufräumen muß, denn Gustav hat ja gekocht und da können die Frauen ja mal eben den Rest machen.

Man darf sich aber nun nicht vorstellen, daß Gustav den ganzen Tag gemütlich am Herd steht und vielleicht zu den Klängen beruhigender Weihnachtsmusik seinen Hasen brutzelt. Nein, Gustav hat an Heiligabend ein volles Programm.

Seitdem ihn sein Schulfreund Hans vor Jahren einmal darauf aufmerksam gemacht hatte, daß vor Gustavs Haus an Weihnachten die Gass‘ nicht richtig gekehrt gewesen sei, hat sich mein sogenannter Schwiegervater es auf die Fahnen geschrieben, die sauberste und am besten gefegte Gass‘ des ganzen Ortes zu haben.
Die Gass‘ das ist ein neun Meter langes Stück Gehweg mit dem dazugehörigen Kantl‘. Das Kantl‘ ist der Rinnstein. Und es obliegt jedem Hausbesitzer diese 18 Quadratmeter peinlichst sauber zu halten. Hat er Mieter, dann verbringt er die Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr gemeinsam mit seiner Hausbesitzer-Ehefrau damit, einen für alle Mietparteien verbindlichen Plan aufzustellen, wer in welcher Woche den Besen zu schwingen hat. Die Mieter haben dann „Kehrwoch‘ „. Und wehe, man hält seine Kehrwoch‘-Verpflichtungen nicht haargenau ein! Dann kann es passieren daß das Vermieterehepaar abends um 22 Uhr noch auf der Matte steht und vorwurfsvoll mit dem Kehrbesen winkt.

Gustav und Magda haben aber keine Mieter und müssen deshalb selber fegen, was in diesem Fall Gustav übernimmt, weil Frauen -seiner Meinung nach- so schwierige technische Aufgaben nicht mit der gebotenen Sorgfalt ausführen können.

Nun ist aber die Gass‘ vor Gustavs Haus sowieso immer staubrein gefegt. Man könnte in der sterilen Atmosphäre des kurzen Gehwegstückes vor dem Haus der Schwiegereltern Kinder gebären, Operationen am offenen Herzen durchführen oder staubfrei Festplatten zusammenbauen, so sauber ist es da immer.
Deshalb kommt es Gustav am Heiligen Abend nicht darauf an, seine Gasse noch einen Tick sauberer zu bekommen, sondern ihm liegt daran, daß ihn die wichtigen Leute aus dem Dorf alle beim Kehren sehen, damit sie im Falle eines Falles, falls Schulfreund Hans mal wieder was sagt, sofort Zeugnis davon ablegen können, den Gustav beim Kehren gesehen zu haben.

Ab acht Uhr morgens steht deshalb Schwiegermutter Magda am straßenwärts gelegenen Schlafzimmerfenster und ruft Gustav die Namen derjenigen zu, die sich dem Wohnhaus der Schwiegereltern nähern. Gustav, mit seinem Hasen schwer beschäftigt, entscheidet dann von Fall zu Fall, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, daß die jeweilige Person tatsächlich an seinem Haus vorbeigeht oder ob sie vermutlich vorher abbiegt.

„Der Pfleiderers Heinz kommt!“

„Der geht zu seinem Schwager und biegt ab.“

„Gleich hinten dran kommt aber der Bürgermeister!“

Gustav läßt den Hasen Hasen sein und flitzt zur Haustüre. Dort hat er, strategisch günstig, Besen und Kehrschaufel deponiert. Mit diesen Utensilien bewaffnet stellt er sich auf seinen Gehweg und fegt, was das Zeug hält. Zwar macht der Bürgermeister Anstalten, auch vorher in die Seitenstraße abzubiegen, doch dann wäre Gustavs eilender Einsatz ja völlig umsonst gewesen. Deshalb wedelt er mit dem Besen in der Luft herum und scheppert etwas mit der blechernen Kehrschaufel an der Mauer (dem Mäuerle) entlang. So gelingt es ihm, die Aufmerksamkeit des Bürgermeisters zu erregen, der nur kurz freundlich nickt. Ob der nun auch wirklich wahrgenommen hat, daß Gustav kehrt? Das erscheint meinem Schwiegervater sehr zweifelhaft, deshalb ruft er dem Bürgermeister noch zu: „Sauber muß es sein, gell?“

Sobald die möglichen Kehrkontrolleure wieder außer Sicht sind, wendet sich Gustav wieder seinem Hasen zu und wartet, bis Magda ihm abermals einen Namen zuruft. So wiederholt sich der Kehren, Scheppern und Rufen bis exakt um zwölf Uhr mittags mindestens 30 Mal.
Dann ist Mittagsruhe!
Die Mittagsruhe ist noch heiliger als die Kehrwoch‘. Sie zu brechen, sie durch irgendein Geräusch zu schänden, wiegt etwa genauso schlimm, als würde man in der Dorfkirche den Altar mit Jauche übergießen oder den Bürgermeister auf der Straße nicht grüßen!

In unserem Dorf ist es deshalb in der Mittagszeit sowas von ruhig, das kann man sich kaum vorstellen. Die mittagliche Stille wird allenfalls von den Geräuschen unterbrochen, die ausgerechnet jene Rentner erzeugen, die am stärksten auf die Einhaltung eben dieser Mittagsruhe pochen: Rasenmähen, Auto-Warmlaufenlassen, Bleche flach klopfen, Nägel einschlagen, Bohrmaschine oder Kreissäge ausprobieren usw.

Nach der Mittagsruhe, die exakt um 15 Uhr endet, kümmert sich Gustav dann erneut um seinen Hasen. Hierfür hat er aber nur sehr wenig Zeit und Muße, weil er bald singen muß.
Es ist nämlich in unserem Dorf seit Generationen, vermutlich seit 4 Milliarden Jahren, Sitte, daß die Rentner sich um 16.30 Uhr auf dem Friedhof versammeln, um für die Toten Weihnachtslieder zu singen. Daß diese das nicht mehr hören können und daß man an Heiligabend sowieso keine Zeit hat, stört in unserem Dorf niemanden. Das Weihnachtssingen für verrottende Leichname ist wichtig, sehr wichtig!
Gustav muß sich also sputen, seinen viel zu engen dunklen Anzug anziehen und gemeinsam mit Magda zu Friedhof laufen. Dort kommen die beiden dann völlig abgehetzt und mit hochroten Köpfen an. Eine Stunde lang wird gesungen, dann haben die Toten die Nase voll und es beginnt zu regnen.
Die Schwiegereltern gehen eilends nach Hause, denn Gustav muß den Hasen nochmals begießen, bevor die beiden sich dann auf den Weg zur Weihnachtsmesse machen.
Der Weg zur Kirche ist weit, aber Gustav und Magda gehen zu Fuß. Zwar hatten wir zuletzt vor 27 Jahren eine weiße Weihnacht, aber Gustav fährt nicht gern im Schnee und deshalb bleibt das Auto an Weihnachten immer in der Garage.
Man kann sich leicht vorstellen, wie abgehetzt und erledigt die beiden sind, wenn sie anderthalb Stunden später so gehen 19.30 Uhr wieder zu Hause ankommen.

Sie befinden sich dann genau in der richtigen Laune und Stimmung, um mit Anke und mir und den beiden Kindern so ganz entspannt und in Ruhe den Bleikugelhasen zu essen und Gemütlichkeit einkehren zu lassen.

Gustavs Hase ist immer ganz genau um 20 Uhr fertig. Die Bescherung hat er stets für ebenfalls exakt 20.30 Uhr terminiert, weil er um 20.45 Uhr eine Schallplatte mit weihnachtlichen Gesängen ungarischer Hirten auflegt, eine Reminiszenz an seine Herkunft vom Balkan.

Was hat diese Terminplanung zur Folge? Nun, ganz einfach: Unsere Kinder sind seit morgens aufgeregt ohne Ende und wollen ihre Geschenke. Die Schwiegereltern sind durch ihr hastiges Tagespensum gereizt wie Bluthunde und unsere Nerven liegen sowieso blank, dafür sorgen schon die Kinder. Der Hase, es ist ja ohnehin nicht viel, muß hastig herunter geschlungen werden, denn es gibt ja noch Nachtisch (eine Scheibe Christstollen) und Gustav will hinterher immer, daß wir Erwachsenen alle einen Schnaps trinken. Dabei schaut er dann schon ständig auf die Uhr, nur damit ja nicht sein Zeitplan durcheinander kommt.
Dann ist endlich Bescherung, die Kinder sind ganz aus dem Häuschen und flippen beinahe aus, weil sie so tolle Sachen bekommen haben.
Und was macht Gustav? Er macht: „Pssssst!“ und legt die Weihnachtsplatte auf.
Ich muß es wohl nicht noch extra erwähnen, daß Gustav nun absolute Ruhe und Andacht von allen Beteiligten erwartet.
Dieser Wunsch ist ihm nur sehr schwer zu erfüllen. Einerseits beginnt die Schwiegermutter direkt nach der Bescherung damit, das Chaos in der Küche zu beseitigen. Die aus der Küche herrührende Lautstärke kommt zum Teil von den Töpfen und dem Geschirr, zum Teil von ihrem unablässigen Gemecker. Man hört immer wieder Wortfetzen: „Chaos… So eine Unordnung… Bombe eingeschlagen…“
Andererseits fällt es Anke und mir natürlich schwer, unsere Kinder ruhig zu halten. Seit Stunden warteten sie auf die Geschenke und sollen jetzt, da sie sie endlich haben, mucksmäuschenstill sein.
Es dauert für gewöhnlich keine fünf Minuten und Gustav herrscht uns an: „Ihr habt die Kinder nicht im Griff! Sowas kommt nur von der modernen Erziehung! Wir wußten früher noch die schönen Gesänge zu schätzen! Da kann man sich ja gar nicht konzentrieren! Ich mach mir den ganzen Tag Arbeit und ihr gönnt mir die Musik nicht!“ usw.

Nach ganz kurzer Zeit bricht er dann die musikalische Vorführung ab, holt eine Flasche Schnaps und beinahe jedes Jahr endet der Abend im Chaos und im Streit. Vom Alkohol mutig geworden und von seiner ohnehin zornigen Frau aus der Küche angestachelt, will er dann die Gunst der Stunde nutzen, um mal eben mit uns abzurechnen, was wir das ganze Jahr über so alles falsch gemacht haben…

Versteht mich irgendeiner, wenn ich sage: Nee, da gehen wir zu Weihnachten nicht hin?

Was machen wir also, um dieser Zeremonie des Grauens zu entgehen?

Vor zwei Jahren kam Anke, die Allerliebste, auf die Idee, man könne Weihnachten doch auch im Wochenendhaus der Schwiegereltern feiern. Das ist ein sehr großes Haus und liegt im tiefsten Odenwald, gut eine Autostunde entfernt. Gustav und Magda sind sogar gar nicht abgeneigt gewesen und Gustav hat sogar seine Scheu vor möglichem Schnee überwunden und ist zwei Tage vor Weihnachten mit seiner Frau und dem Hasen im Gepäck „da hoch“ gefahren.

Anke und ich beteten inbrünstig, daß im Radio Schneefall oder Regen angekündigt wird. Liegt die Niederschlagswahrscheinlichkeit nämlich über 30% dann müssen wir am Heiligen Abend nicht in den Odenwald und Gustav ist mitsamt Frau und Hase förmlich von der Außenwelt abgeschnitten. Wir erinnern uns, bei Schnee fährt der nicht!

Seitdem wir das so machen, haben wir die entspanntesten Weihnachten, die man sich vorstellen kann! Ohne Hasen, mit großem Baum, alles in Ruhe und Gelassenheit und keiner von uns kommt auf die Idee, irgendeinem Toten ein Lied zu singen.

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    Geschichten

    Der erfolgreiche Buchautor Peter Wilhelm veröffentlicht hier Geschichten, Kurzgeschichten, Gedanken und Aufschreibenswertes.

    Lesezeit ca.: 13 Minuten | Tippfehler melden | Peter Wilhelm: © 20. Dezember 2014 | Revision: 15. März 2015

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