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Weihnacht mit Narhalla

„Und sonst?“ fragt mich der Dicke, der sich ungefragt an unseren Tisch gesetzt hatte, weil er das immer so macht und weil er meint, jeden zu kennen.

Ich sage das, was ich in solchen Fällen meistens sage: „Grunz“, nicke dazu und weiß, daß das die Eingeborenen hier am ehesten zufriedenstellt. Der Dicke ist Vereinsvorsitzender des Sportvereins, in dem unsere Josie mitmacht und weil die Kleine mit ihrer Gruppe auf der Weihnachtsfeier was vormachen musste, sind wir dahin gegangen.

Rouven wollte auch mit, denn da gibt es immer Kuchen. Anke muss mit, weil sie das Kind damals in diesem Verein angemeldet hat, da kenne ich kein Erbarmen. Immerhin gibt es dieses Jahr sehr viel aufgetauten Kuchen von Wiesenrath & Coppe. Denn eigentlich sollen die Mütter einen selbstgebackenen Kuchen mitbringen. So stand es auf der Einladung: „Mütter! Kuchen bitte mitbringen.“


Da Anke eindeutig die Mutter ist und nicht backt, ergab sich aus dieser Aufforderung ein logistisches und logisches Problem.

„Wir könnten es ja so machen, daß ich den Kuchen backe und du bringst ihn nur mit“, hatte ich vorgeschlagen.

„Da steht aber gar nicht, daß man ihn selbst backen muss. Da steht nur was vom Mitbringen und wir haben doch den Christstollen vom ALDI“, wandte Anke ein.

Da hatte sie Recht! Schließlich haben wir den Christstollen dann aber doch daheim vergessen. Das machte aber nichts, es waren etwa 20 Christstollen da, alle selbstgebacken.

Und mit selbstgebackenen Sachen ist das immer sehr fragwürdig. In 90% aller Fälle schmeckt das ganze Zeug, das andere backen irgendwie komisch.
In der Vorweihnachtszeit schenkt uns Frau Scheibele vom anderen Ende der Straße immer eine Blechdose mit selbstgemachten Plätzchen. Damit die Plätzchen die richtige Konsistenz bekommen, muss sie diese zwei Wochen lang in einer offenen Dose aufbewahren. Das macht Frau Scheibele indem sie die Dosen oben auf den Schlafzimmerschrank stellt, so werden vor allem die Zimtsterne schön mürbe. Jetzt ist das aber so eine Sache, das mit dem Schlafzimmer von den Scheibeles. Herr Scheibele ist ja ein ganz netter älterer Herr, aber er stinkt aus dem Schuh.
Mit anderen Worten, er hat Käsefüße, daß es einen schütteln kann und dieser Mann mit seinen Käsefüßen pflegt in eben diesem Schlafzimmer mit den offenen Keksdosen zu schlafen und vor sich hin zu stinken.
Naja, jedenfalls unser Hund freut sich immer sehr über die Ergebnisse der vorweihnachtlichen Backkunst von Frau Scheibele. Seit Jahren schon revanchiere ich mich mit einer ungarischen Paprika-Salami von ALDI. Die packen wir aus, biegen sie ein wenig hin und her, damit sie nicht so nach Fabrik aussieht und schenken sie den Scheibeles als echt Odenwälder Bauernsalami, die wir angeblich immer extra für sie aus einem nahezu von der Außenwelt abgeschnittenen, einsamen Dorf aus dem tiefsten Odenwald holen. Die freuen sich immer sehr.
Ich weiß aber gar nicht, ob die die selbst essen, die Scheibeles haben nämlich auch einen Hund.

Auf der Weihnachtsfeier gab es ein großes Gedränge am Kuchenbuffet. Anke und ich können das gar nicht verstehen. Wie kann man sich, kaum daß der dicke Vorsitzende das Kommando dazu gibt, dermaßen ins Getümmel stürzen? Stets bleiben wir ruhig und gelassen sitzen. Es wäre auch unter meiner Würde als Intelektueller, mir mit geifernden Müttern und Vätern ein Handgemenge um ein Stück Bienenstich zu liefern.
Wir schicken immer die Kinder!

Offenbar hat meine Tochter aber was mit den Ohren, denn sie bringt mir nicht den erwarteten Bienenstich, sondern ein Stück Stollen und etwas Linzer Torte. Die Produzentin dieses Stollens hat aber ganz augenscheinlich irgendwas vergessen. Ich vermute, es ist der Teig. Irgendwie hat sie es geschafft, ausschließlich Zitronat, Orangeat und Sultaninen in Form zu pressen und mit Puderzucker zu überziehen. Es schmeckt abscheulich! Als Rouven mal eben nicht guckt, lege ich ihm den Stollen schnell auf den Teller, er merkt nichts, wundert sich auch kein bißchen über den Zuwachs auf seinem Teller und mampft den Stollen auf.
Die Linzer Torte schmeckt ganz übel, sie hat so einen komischen Beigeschmack und mir wird erst klar, nach was sie schmeckt, als von anderen Ende des Saales Frau Scheibele zu uns herüber winkt. Rouven guckt schon wieder nicht…
Vielleicht nehme ich nächstes Jahr den Hund mit.

Nach dem Kuchen kommt der Nikolaus, den man hier Niggelaus nennt. Aber auch dieser Nikolaus hat kein Bischofsgewand an, sondern eine rote Filzkutte und einen Wattebart und es handelt sch somit um einen amerikanischen Weihnachtsmann. Die Leute sind trotzdem begeistert vom Niggelaus. Dem hat man nämlich die kleine Bühne freigeräumt und ein Mikrophon in die Hand gedrückt. Die Tonanlage ist grauenhaft schlecht ausgesteuert, dafür aber schon laut aufgedreht.
Von den Worten des Niggelauses hört man nur: „Bumm, wadaaa, bumm, dröhn, wamm wamm wamm“, dann kommen die Kinder auf die Bühne. Auch unsere beiden gehen hinauf, schließlich gibt es immer kleine Geschenke. Man versteht zwar nichts vom Niggelaus, aber seinen Gesten kann man unschwer entnehmen, daß er gerne von jedem Kind ein Lied oder ein Gedicht hören möchte.
Soviel ich weiß, beschäftigen sich meine Kinder gerade intensiv damit, die Lieder von irgendeinem dunkelhäutigen Menschen auswendig zu lernen, dessen Repertoire auch die Worte motherfu*ker und sonofabitch umfasst. Noch bevor wir die unerlaubt ausgeliehene CD konfiszieren konnten, sangen die Beiden diese bösen Sachen. Jedenfalls haben sie in diesem Jahr nicht Weihnachtliches vorbereitet.

Josie geht der Sache gekonnt aus dem Weg. Jedes Mal, wenn auf der Bühne eines der anderen Kinder vortritt, wechselt sie die Position und steht schließlich mit in der Gruppe der Kinder, die schon fertig sind und ihre Geschenke bekommen. Rouven überlegt noch und überlegt und überlegt… Schließlich, man sieht es ihm förmlich an, hat er irgendeine zündende Idee, doch da hält ihm der Niggelaus auch schon das Mikrophon vor die Nase. Nunmehr erweist sich die schlechte Übertragungsqualität, die wir soeben noch bemängelten, als Segen, denn alle anderen hören nur „Bumm, waramm, dumm damm damm“ durch die dröhnenden Lautsprecher, aber Anke und ich wissen, daß unser großes Kind da oben „Zickezacke Hühnerkacke“ aufsagt.

Einen peinlichen Höhepunkt erlebt dieser Teil der Veranstaltung noch, als eine junggebliebene Großmutter mit ihrem halbjährigen Enkel auf die Bühne stürmt. Kevin-Luca will dem Niggelaus auch was singen. Kevin-Luca weiß aber davon gar nichts und hat einfach nur Angst vor dem großen, rotgewandeten Mann. Die Oma setzt sich in die Hocke, so als ob sie ein Ei legen wolle, setzt den sich windenden und brüllenden Winzling auf ihr linkes Knie und nimmt dem Niggelaus das Mikrophon weg.
Zehn Minuten lang kreischt Kevin-Luca und die Oma trägt stellvertretend für ihren mittlerweile blau angelaufenen Enkel etwas vor: „Wamm, dram drumm, paramparam pam, da da di da da da paramparam pam Wumm.“

Der dicke Vorsitzende geht auf die Bühne, verabschiedet den Niggelaus und als dieser durch die Reihen des Saales geht, intoniere ich leise, aber hörbar die ersten Takte des Narhalla-Marsches: „Buff Tata, Buff Tata, Dummdiedelum, Damm, Dummdiedelu“. Der Mann, der zwei Plätze weiter sitzt, nimmt die Melodie auf und binnen weniger Sekunden singt der ganze Saal mit.
Anke will sich mal wieder in Grund und Boden schämen, aber ich finde es auf einmal sehr lustig.

Die Angelegenheit fällt auch nicht auf mich zurück, zumindest nicht negativ. Anders ist es nicht zu erklären, daß der dicke Vorsitzende sich gegen Ende des gemütlichen Teils zu uns an den Tisch setzt und „Und sonst?“ fragt.

Wiegesagt, ich nicke bloß und sage: „Hajo“.

Hajo bedeutet soviel wie ‚Ach ja‘ und kann von einfacher Zustimmung bis hin zum Ausdruck tiefsten Mitgefühls alles ausdrücken.

Und mehr als ‚Hajo‘ fällt mir zu dieser Weihnachtsfeier auch nicht ein.

Und für alle nun zum Mitsingen: Mein schönstes Weihnachtslied

Das war übrigens der 600ste Beitrag in diesem Blog 🙂

© 2006

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Der erfolgreiche Buchautor Peter Wilhelm veröffentlicht hier Geschichten, Kurzgeschichten, Gedanken und Aufschreibenswertes.

Lesezeit ca.: 9 Minuten | Tippfehler melden | © Revision: 17. September 2020 | Peter Wilhelm 17. September 2020

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