Siggi ist der leibhaftige Tunichtgut und Berufsschnorrer in unserem beschaulichen Fischerdorf. Es gibt weit und breit keinen, dem Siggi nicht ein paar Euro schuldet, immer wieder findet er einen, bei dem er sich durchschnorren kann. „Du glaubst gar nicht, wie anstrengend das ist, die ganzen Daten im Kopf zu behalten“, sagt er zu mir, als ich ihn neulich in meinem Lieblingskaffeehaus treffe und er sich mit einer Mappe vom Lesezirkel unterm Arm an meinen Tisch setzt.
Immer donnerstags kommen die neuen Lesezirkelmappen und immer donnerstags geht Siggi zum Arzt. Nicht etwa daß er krank ist, er geht nichtmal in die Sprechstunde, nein, er setzt sich nur kurz ins Wartezimmer, sucht sich eine passende Lesemappe aus und geht dann wieder, die Mappe nimmt er mit. „Ja und? Das belastet die Krankenkasse nicht, mir geht es seit Jahren wunderbar und krankenversichert bin ich sowieso nicht.“
Wenn sich Siggi an meinen Tisch setzt, dann weiß ich, daß ich für ihn mitbezahlen muß. Das ist seit Ewigkeiten so, das ist ein Naturgesetz und eher krümmt sich die Nase des Papstes unter dem Einfluß des magnetischen Äquators, als daß Siggi einmal einen Euro im Kaffeehaus bezahlt.
Doch an diesem Tag muß sich die Nase Benedikts heftig gebogen haben, denn Siggi zieht ein kleines Bündel Gelscheine aus der Hosentasche und fragt: „Was darf ich Dir bestellen? Du bist eingeladen!“
„Nein?!“ entfährt es mir erstaunt und auch Klaus, der bezopfte Gastwirt erwacht kurzfristig aus seiner Reggae-Lethargie und wirft uns einen interessierten Blick zu. Ich sehe förmlich, wie er kurz überlegt, ob es jetzt wohl der richtige Zeitpunkt wäre, Siggi mit seinem unbezahlten Deckel zu konfrontieren, doch Klaus ist clever und läßt das bleiben. Zwar könnte er jetzt vielleicht Siggi den offenstehenden Betrag abknöpfen, aber dann käme der Schnorrer lange nicht mehr und da ist es ihm doch lieber, wenn der alle paar Tage gemeinsam mit irgendwem, auf ‚irgendwems‘ Kosten, etwas Umsatz macht.
„Doch! Bestell Dir was Du willst, ich lade Dich ein!“
Das lasse ich mir nach Jahren der Ausbeutung nicht zweimal sagen und bestelle mir einen Espresso: „Aber einen Doppelten!“
„Und wie kommst Du an soviel Geld?“ will ich von Siggi wissen.
„Ich mache Widerstandskämpfer!“
„Was?“
Und dann erzählt mir Siggi von seiner neuesten Geschäftsidee. Vor einiger Zeit ist nämlich nach langjährigen Querelen das große Buch der Gemeindegeschichte erschienen, ein 500seitiges Machwerk zweifelhafter Qualität, das aber akribisch die Geschichte unseres Fischerdorfes seit seiner Gründung vor 2000 Jahren erzählt. An die Zeit vor 2000 Jahren kann sich, trotz intensiven Nachgrübelns, selbst der älteste noch lebende Bürger der Gemeinde, der Altgemeinderat Georg Kreissler, immerhin schon 102 Jahre alt, nicht erinnern. Ihm sei so, als sei da was gewesen, aber was, das wisse er nicht mehr so genau.
Die Zeit vor 60 Jahren hingegen, die ist natürlich vielen noch präsent und wurde im großen Buch der Gemeindegeschichte auch in aller Ausführlichkeit beschrieben, handelt es sich doch um eine Zeit, als die Roten und die Braunen allgegenwärtig waren und sich mehr als einmal in vielfältig überlieferten Saalschlachten mehr oder weniger erfolgreich die Köpfe einschlugen. Hier vor Ort variieren die Berichte über die Siegerschaft bei solchen Gemetzeln je nach politischer Kovenienz des Erzählenden.
Braun war natürlich keiner, das ist klar. Jedoch bräunt es derzeit ein wenig in der Gemeinde, hat man doch mit der Fertigstellung des Geschichtsbuches einen ortsfremden Historiker beauftragt, der die lokalen Befindlichkeiten nicht kennt und sachlich, nüchtern Fotos auswertete und geradeheraus Ross und Reiter nennt.
So mancher hier geht seitdem eher gesenkten Hauptes einher, da nun ruchbar und in die Erinnerung zurückgerufen worden ist, daß er oder seine Eltern einst im sogenannten „braunen Haus“ ein- und ausgegangen sind oder daß sie beim fröhlichen Hakenkreuzfahnenschwenken die Eifrigsten überhaupt gewesen waen.
In einem Ort, in dem es als chic gilt, rot und protestantisch zu sein, hat man da keinen guten Stand.
Siggi aber kann da helfen. Sein Geschäftsmodell ist so einfach wie genial. Bei Ebay ersteigert er seit Monaten Unmengen von Chanukkaleuchtern, Judenkäppis und Davidsternen in allen Ausführungen. Die Sachen vergräbt er in seinem Garten, berieselt das Beet täglich mit Schweinegülle und sorgt so dafür, daß die Artefakte nach wenigen Wochen aussehen, als seien sie an die hundert Jahre alt und in Würde gealtert. Unliniertes Briefpapier altert er bei 80 Grad im Backofen und verfasst dann Dankesbriefe.
„Was denn für Dankesbriefe?“ will ich wissen und Siggi lehnt sich auf seinem Stuhl zurück, grinst breit und erklärt:
„Na von den Juden, die sie alle auf dem Dachboden versteckt hatten. Überleg doch mal! Seit Jahren führen diese Leute hier ihre Geschäfte, sind in Amt und Würden, manche schon in Rente und einjeder hofft, eines Tages den Ehrenring der Gemeinde oder ein Verdienstkreuz zu bekommen. Weißt Du wieviele sich das abschminken können, nachdem nun bekannt wurde, daß sie Nazis waren? Ja, und genau da helfe ich. Die haben doch über 60 Jahre lang behauptet, sie hätten da nur mitgemacht, weil sie quasi dazu gezwungen gewesen waren und langsam ist vergessen worden wie das wirklich war, es leben ja auch nicht mehr viele, die wissen könnten was da alles vorgefallen ist. Und damit die sich jetzt reinwaschen können, verfasse ich Briefe in denen sich irgendein Samuel Grünspan oder ein Isaak Zwirbelkorn in höchsten Tönen und großer Ausführlichkeit dafür bedankt, daß der Betreffende oder seine Eltern ihn auf dem Dachboden oder im Keller oder in der Fischerhütte vor den braunen Schergen versteckt haben. Ich schreibe auch immer, daß der Jude bezeugen kann, daß diese Leute nur deshalb in die Partei eingetreten sind, um den braunen Machtapparat von innen auszuhöhlen und um die Arbeit des Widerstands hier vor Ort vorzubereiten. Und als Zeichen der immerwährenden Dankbarkeit hat eben dieser Isaak oder Samuel seinen Lebensrettern, die nur um ihn zu retten Nazis geworden sind, seinen wertvollen Chanukkaleuchter überlassen, bevor er und seine Familie bei Nacht und Nebel von den Alibi-Nazis über die Grenze gebracht worden sind, um nach Amerika oder Palästina auszuwandern.“
„Du spinnst!“
„Ja sicher!“
„Du spinnst wirklich!“
„Ja, das streite ich ja auch nicht ab, aber bis jetzt habe ich schon 86 Chanukkaleuchter und Briefe verkauft. Wir sind mittlerweile die anerkannte Keimzelle des antifaschistischen Widerstands. In keiner Gemeinde hat es so viele Widerstandskämpfer gegeben und nirgendwo sind soviele Juden geretten worden wie bei uns.“
„Hier hat es doch gar keine Juden gegeben.“
„Das macht doch nichts, dann haben die, die sich jetzt bei mir diese Leuchter und Briefe besorgen, wenigstens wirklich keinem was zuleide getan. Und so ein Brief beschert ihnen dann eines Tages vielleicht doch das Bundesverdienstkreuz.“
„Du bist ein Spinner!“
„Wer heilt, hat Recht!“
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