Spitze Feder

Von Badern und Zahnreissern

Zahnarzt

1986 erschien im New Yorker Simon & Schuster Verlag das Buch „The Physician“ des US-amerikanischen Schriftstellers Noah Gordon.

Der deutsche Regisseur Philipp Stölzl wob aus dem Sujet dieses Werkes 2013 einen bildgewaltigen 3-Stunden-Film mit dem Titel „Der Medicus“. Das brillant komponierte Epos erzählt vom Werdegang eines englischen Jungen, namens Robert Cole, dessen Mutter zu Beginn des Films an einer Blinddarmentzündung verstirbt, die von einem sogenannten Bader kurz vor ihrem Tod als unheilbare Seitenkrankheit diagnostiziert wird.

Diese etwas grobschlächtigen Gesellen ziehen im späten Mittelalter umher und bieten dem leidenden Volke ihre Dienste feil. Sie renken Schultern wieder ein, schienen gebrochene Gliedmaßen, sägen wundbrandige zuweilen auch mal ab und reißen mit großen Zangen und ebensolcher Kraft, eitrige Zähne aus den Kiefern der vom Schmerz geplagten Zeitgenossen. Robert Cole hat die magische Gabe, alleine durch Handauflegen zu erkennen, ob jemand unbehandelt eine ungute Prognose hat, oder gar, ob dessen Ableben bevorsteht. Da er nach dem Tod seiner Mutter nun Vollwaise ist, schließt er sich dem Landfahrer kurzerhand an und lernt von ihm die etwas derben und zumeist schmerzhaften Behandlungsmethoden des Badens und Zahnreißers. Später studiert er im fernen Persien mit Inbrunst bei dem berühmten Medicus Ibn Sina, der dort seinen Schülern das Wissen der orientalischen Medizin lehrt. So die kurze Inhaltsangabe des absolut sehenswerten Films.

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Im 21. Jahrhundert hat sich das mittelalterliche, archaische Handwerk der Bader und Zahnreißer, zu einer hohen Kunst entwickelt, und ein Ende des Wissenszuwachses ist nicht abzusehen. Heute ist die Operation einer banalen Blinddarmentzündung, die Robert Coles Mutter noch so elend dahinraffte, ein Routineeingriff, den ein versierter Chirurg zwischen Filet Mignon und Mousse au Chocolat, quasi im Vorbeigehen erledigt.

Bis 1990 waren in der Bundesrepublik noch geschätzte 100 Kobaltkanonen (vulgo: Kobaltbomben) im Einsatz. Damit wurde Krebsgeschwüren radioaktiv mit Schmackes auf die Pelle gerückt, leider auch mit entsprechenden Kollateralschäden des umliegenden Gewebes. Da musste man aber durch. Es gab halt noch nix anderes. Die Alternative für die Erkrankten wäre gewesen, sich nicht bestrahlen zu lassen und somit eventuell eine vorzeitige Inanspruchnahme der Services eines Bestattungshauses in Erwägung ziehen zu müssen.

Diese strahlentherapeutische Holzhammer-Methode, wurde im 21. Jahrhundert jedoch durch hochmoderne, ultragenaue Linearbeschleuniger ersetzt, die deutlich präzisere und weniger belastende Behandlungen ermöglichen. Musste früher bei einer OP oft noch der halbe Brustkorb aufgeflext werden, verfügen Operateure heute über ein breites Spektrum an hochgenauen, feinmechanischen Werkzeugen, mit denen ein Gros der Operationen bereits minimalinvasiv durchgeführt werden kann. Neue Herzklappe? Kein Problem. Zwei Tage Klinik, kleiner Schnitt in der Leistengegend, und direkt danach: Ab in die Reha. Zeit ist schließlich Geld, wie der Volksmund so schön sagt. Chirurgische Präzision ist mittlerweile zum geflügelten Wort für alles und jedes geworden…auch und insbesondere auf dem Felde.

Präsidenten, Verteidigungsminister, Politiker, Journalisten und Diskussionsteilnehmer in den embedded Polit-Talkshows (m, w, d, damit das ebenfalls chirurgisch präzise beschrieben wäre)…sie alle werden nicht müde, immer wieder über High-Tech-Waffen zu referieren und zu delirieren, die bei moderner Kriegsführung zum Einsatz kommen, um mittels besagter chirurgischen Präzision, die Opferzahlen unter der Zivilbevölkerung möglichst…oder so ähnlich.

Cruise-Missiles verfügen über eigenes Bordradar und werden via GPS punktgenau in ihr Ziel geleitet, um dort ihren verdammten Job zu erledigen, wie Lloyd Austin wohl zu sagen pflegt. Drohnen werden von hochdekorierten Piloten in klimatisierten Kommandostationen via Joystick über Satelliten dirigiert, um am Zielort tatsächlich nur diese eine Hochzeitsgesellschaft zu eliminieren, jedoch das Marktgeschehen rechts und links der Location, unbehelligt zu lassen. Um die Präzision der chirurgischen Kriegsführung zu optimieren, werden demnächst wohl ausschließlich KI-gesteuerte, autonome Waffensysteme zum Einsatz kommen, die bei besagter Hochzeitsgesellschaft direkt vor Ort, via Gesichtserkennungssoftware, sogar punktgenau zwischen den geladenen Gästen, also den mutmaßlichen Terroristen, und dem unschuldigen Personal des Caterings unterscheiden können, um dadurch die Opferzahlen unter der Zivilbevölkerung möglichst …oder so ähnlich.

Kein Mensch kann heute voraussagen, wann die derzeit wütenden 200 Kriege beendet sein werden, oder gar, wie viele noch hinzukommen. Die meisten sind ja ohnehin viel zu weit weg, und wir können uns schließlich nicht um jeden Vogelschiss in der Geschichte kümmern, wie Adolf Gauland vermutlich anmerken würde. Oder war es Alexander Gauland? Egal. Jedenfalls mit A, wie A…….

Zudem sind momentan sämtliche Medien mit der Berichterstattung und den stündlichen Updates vom Schlachten in der Ukraine und in Israel, mehr als ausgelastet, und es liegen ohnehin keine belastbaren Zahlen über zivile Opfer, respektive über den Erfolg der chirurgisch präzisen Kriegsführung, vor. Lediglich die Propaganda der beteiligten Kriegsparteien arbeitet auf Hochtouren. Aber die Wahrheit stirbt ja bekanntlich bei jedem Krieg zuerst. Insofern müssen wir uns mit einer exakten Analyse zwischen schuldigen und unschuldigen Opfern leider noch etwas gedulden. Fragte man den begnadeten bayrischen Rhetoriker Edmund Stoiber, würde er zu dem Ganzen vermutlich jedoch sagen, äh, äh, da geht noch viel mehr, äh, äh, also mehr vom Weniger, äh, also viel mehr weniger, also, äh, weniger Tote.

Da jedoch Tony Hofreiter mit säbelrasselndem Crescendo, die Deutungshoheit im widerlichen deutschen Panzerketten-Porno gegen Marie-Agnes Strack-Zimmermann mit allen Mitteln…Oha, ich fürchte, mir wird gerade speiübel. Ich schenke mir deshalb den Rest dieses Satzes.

Ich sag Euch was: Dieses kriegsgeile Gesockse in den Parlamenten, oder diejenigen, die sich bei Lanz & Co die Klinke in die Hand geben, die Kriege ob deren chirurgisch präzisen Führung kommentieren, die salbadern, mit welchen Waffen man den Sieg des einen, oder den Untergang des anderen, garantiert herbeibomben könne, statt weltweit endlich etwas gegen dieses barbarische Abschlachten zu unternehmen…sie alle haben sich in ihrem Mindset noch kein Jota weiter entwickelt als die Bader und Zahnreißer des Mittelalters.

Stopp! Ich fürchte, ich muss für diesen unpassenden Vergleich, bei den ehrenwerten Badern und Zahnreißern um Vergebung bitten, wenngleich dies auch nur posthum möglich ist. Denn im Gegensatz zu den Präsidenten, den Verteidigungsministern, den Politikern, den Journalisten, zu den ganzen jovialen Pack glühender Bellizisten in den embedded Talkrunden, versuchten die Bader und Zahnreißer des Mittelalters schließlich nach ihren Kräften, den Menschen zu helfen, deren Leid zu lindern und Leben zu retten.

Bildquellen:
  • dentist-748153_1920-pixabay: Bild von Sam Chen auf Pixabay

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Spitze Feder – Spitze Zunge

Diese Kolumne schreibt vorwiegend Peter Grohmüller seine Gedanken zur Welt und dem Geschehen unserer Zeit auf.
Seine fein geschliffenen „Ergüsse“ – wie er selbst sie nennt – erfreuen sich großer Beliebtheit.

Hin und wieder erscheinen in dieser Kolumne auch Beiträge anderer Autoren, die dann jeweils entsprechend genannt werden.

Die Texte sind Satire, Kommentare und Kolumnen. Es handelt sich um persönliche, freie Meinungsäußerung.

Für die Texte ist der jeweilige Autor verantwortlich.

Lesezeit ca.: 7 Minuten | Tippfehler melden | © Revision: | Peter Grohmüller 22. Dezember 2023

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