Spitze Feder

Schmerzliches Lernen

Mann beim Zahnarzt

Als die Alliierten aus Sowjetunion, Großbritannien, Frankreich und USA die Barbarei der Nazi-Diktatur nach 6 Jahren eines erbarmungslosen Krieges …

… mit 75 Millionen Opfern und einem horrenden eigenen Blutzoll 1945 niedergerungen hatten und in den Trümmern des Tausendjährigen Reiches Tabula Rasa machten, bildeten sie keinen Stuhlkreis, um mit den besiegten Reichsbürgerinnen und Reichsbürgern, deren Fehlverhalten sachlich, ruhig und dialektisch zu analysieren. Sie zerrten Hunderte derer, die am 18. Februar 1943 auf Goebbels Frage, ob sie den totalen Krieg wollten, mit tosenden Beifallsstürmen „Ja!“ brüllten, rabiat auf Lastwagen, fuhren sie in die befreiten Konzentrationslager und zeigten ihnen die geschundenen, gerade noch lebenden, ausgemergelten Gefangenen und die unvorstellbaren Leichenberge.

Viele Frauen, die noch wenige Monate zuvor mit Stolz ihre BDM-Uniform getragen und sich insgeheim vielleicht ein Kind vom Führer gewünscht hatten, brachen bei dem Anblick dieses Grauens vor Entsetzen zusammen, oder übergaben sich sogar. Gestandene Männer, die noch vor kurzem in NS-Phantasien eines Volkes ohne Raum schwelgten, schlurften wie geprügelte Hunde, mit leeren Augen und gesenkten Häuptern, zwischen den Baracken, den Gaskammern und den Krematorien umher. Dieses schmerzhafte Lernen war zwingendes Gebot der Stunde. Niemand sollte jemals vergessen, was Faschismus letztendlich bedeutet:

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Die absolute Rechtlosigkeit des Individuums vor der Allmacht eines absoluten Staates, eines Systems der totalen Kontrolle. Ein System, das es Mitläufern und Mittätern gestattete, sich auf Kosten jener Mitmenschen maßlos zu bereichern, die dem Rassenwahn der Nazis nicht entsprachen und bestialisch ermordet wurden. Dass die von der Herrenrasse als Referenz des wahren Deutschen glorifizierten Arier, weder groß, noch schlank, oder blond und blauäugig waren, sondern Angehörige eines zentralasiatischen Volkes sind, kann jeder, der es wissen möchte, heutzutage bequem im Internet recherchieren. Leider scheinen es aktuell jedoch nicht allzu viele zu sein. Oder sollte man statt „leider“, nicht besser „erschreckenderweise“ sagen?

Neben vielen schrägen, teils aber auch amüsanten Bonmots, mit denen Helmut Kohl die Medien beglückte, während er als Überkanzler Geschichte schrieb, gibt es auch eines, dem ich voll und ganz zustimmen kann, und das mir anhand eines bedrohlichen Wiedererstarkens des Faschismus in Deutschland, geradezu wie ein Menetekel erscheint:

„Wer die Vergangenheit nicht kennt, kann die Gegenwart nicht verstehen und die Zukunft nicht gestalten.“

Sicher gibt es auch heute noch notorische, unverbesserliche Alt-Nazis in Deutschland. Die meisten davon sind mittlerweile jedoch weit jenseits der 90. Somit dürfte von ihnen kaum noch eine Gefahr ausgehen. Wer die Gelegenheit hatte, im 1965 erschienenen „Braunbuch“ zu lesen, wird festgestellt haben, dass 1949 jedoch ein erheblicher Teil der Parlamentarier im ersten Deutschen Bundestag, aus vormaligen, strammen Parteigängern der NSDAP stammten. Selbst einige Mitglieder des parlamentarischen Rates, also der sogenannten „Väter des Grundgesetzes“, konnten in Nazi-Deutschland einflussreiche Karrieren vorweisen. Namentlich der Arisierungsexperte der Dresdner Bank, Paul Binder (CDU), oder der frühere SA-Obertruppführer Adolf Blomeyer (CDU).

Da die Alliierten dem Gremium jedoch aus gutem Grunde wachsam über die Schultern schauten und gelegentlich auch korrigierend, bis zensierend eingriffen, während besagter parlamentarischer Rat über die einzelnen Artikel beriet, kam mit dem heute noch gültigen Grundgesetz ein Werk zustande, welches für viele Verfassungen weltweit als Blaupause galt. Alleine Artikel 1 ist geradezu ein Monument eines Satzes, mit einer Aussagekraft, über dessen universelle Gültigkeit man in der Bundesrepublik des Jahres 2024 jedoch leider trefflich streiten kann, bedenkt man, mit welchen Repressalien alleine solche Menschen zu rechnen haben, die nicht mit dem goldenen Löffel im Mund zur Welt gekommen sind und sich deshalb kaum gegen staatliche Willkür wehren können.

„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“

  • · Wie würdelos muss es wohl sein, am Ende des Monats den Kühlschrank nicht mehr füllen zu können und im schlimmsten Falle sogar Hunger leiden zu müssen, weil aberwitzige Mieten einen Großteil des Einkommens auffressen, da stinkreiche, namenlose Investoren von Immobilienkonzernen rigoros auf ihre Profite pochen?
  • · Wie würdelos muss es wohl sein, wenn Menschen, die zu uns kommen, die hier arbeiten und sich eine Existenz in Frieden und Freiheit aufbauen wollen, jedoch über viele Monate zu Hunderten in Ghettos zusammengepfercht werden, da ihr „Bleiberecht“ von Amts wegen noch zu klären ist?
  • · Wie würdelos muss es wohl sein, in den Tafelläden um Almosen anstehen zu müssen, weil man Kinder großgezogen und deshalb keine übrigen Mittel für die Altersvorsorge hatte?
  • · Wie würdelos muss es wohl sein, einen täglichen Kampf um sein Auskommen führen zu müssen und gleichzeitig den obszönen Reichtum von einigen wenigen an der Spitze der Gesellschaft anzusehen, die ohne mit der Wimper zu zucken, ein Vermögen für schieren Luxus verprassen?
  • · Wie würdelos muss es wohl sein, wenn das Leben „der kleinen Leute“ immer weiter beschnitten wird, wenn Schulen, Kitas und Krankenhäusern die finanzielle Grundlage entzogen wird, um ein völlig irrationales Haushaltsziel namens „Schwarze Null“ zu erreichen, währen gleichzeitig ein 100 Milliarden € teures „Sondervermögen“ für Waffen en passant die parlamentarischen Hürden nimmt?
  • Ich könnte diese Reihe noch mit zig weiteren Beispielen fortsetzen. Aber es ist wohl an der Zeit, zur Quintessenz dieses Beitrages zu kommen:

    Ich wehre mich mit aller Kraft gegen die bizarre Vorstellung, dass aktuell 21 % der Wahlberechtigten die Vergangenheit nicht kennen, die Gegenwart nicht verstehen und es deshalb den neuen Faschisten mit dem alten widerlichen Gedankengut, tatsächlich überlassen wollen, die Zukunft zu gestalten, mit allen Konsequenzen.

    „Wenn das ganze Asylantenpack und all die Schmarotzer, die sich die deutsche Staatsbürgerschaft erschlichen haben, erst mal aus dem Land deportiert wurden, gibt es wieder genügend Wohnraum und genügend Arbeitsplätze für echte Deutsche“…oder ähnlich gequirlte Scheiße dieser Art.

    Ich kann durchaus verstehen, dass bei manchen die dreckigen, verlogenen Parolen dieses widerlichen Packs auf fruchtbaren Boden fallen. Weil sie einfach nicht mehr klar denken können. Weil sie nur noch blinde Wut darüber empfinden, dass sie in erbärmlich entlohnten Knochenjobs ihre ganze Kraft und ihre Gesundheit aufs Spiel setzen und ihnen trotzdem ein Leben in Würde und in gesellschaftlicher Teilhabe verwehrt bleibt. Wenn sie bei einem großen Automobilkonzern als Leiharbeiter am Band schuften und dafür gerade mal die Hälfte dessen bekommen, was die sogenannte Stammbelegschaft am Ende des Monats nach Hause bringt, und wenn sie dann noch erfahren, dass die Firmenerben in einem Jahr ihr obszönes Vermögen von rund 45 Milliarden €, durch die Dividende um eine weiteren Milliarde € noch vergrößern konnten, ohne dafür auch nur einen einzigen Finger krumm zu machen.

    Dass nun ausgerechnet die Alpha-Rüpel der C-Parteien, also jene, die für sich die Deutungshoheit über ein christliches Weltbild reklamieren, mit einer widerlichen Hetzpropaganda-Light versuchen, die Wählerinnen und Wähler der AfD auf ihre Seite zu ziehen, ist noch das ranzige Sahnehäubchen auf der degoutanten Torte. Und das Lager der selbsternannten bürgerlichen Parteien der Mitte, wird mit ihrem blockhohlen Geschwätz und mit ihren dämlichen Phrasen, die Menschen irgendwo abholen und irgendwohin mitnehmen zu müssen, bei den Abgehängten unseres respektlosen Wirtschaftssystems ebenfalls keinen Blumentropf gewinnen.

    Macht endlich Euren verdammten Job und lest mal wieder im Grundgesetz! Erinnert Euch an Euren Amtseid, den Ihr gemäß Artikel 56 jenes phantastischen Werkes feierlich erklärt habt:

    „Ich schwöre, daß ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe.“

    Der aktuelle Zuspruch der Bürgerinnen und Bürger für das Wiedererstarken der rechten Ratten, liegt nicht etwa an den Flüchtlingen, deren Unterbringung und Verpflegung uns über kurz oder lang, wohl finanziell überfordern wird, da die Vermögenden, aufgrund Eurer seit Jahrzehnten währenden, vorsätzliche Klientelpolitik, bei diesem Kraftakt außer vor sind. Das ist wohlfeiles Geschwätz der untersten Schublade. Der aktuelle Zuspruch liegt daran, dass es in unserer Gesellschaft aufgrund Eures Versagens und Eurer sinn- und planlosen Übergriffigkeit gegenüber der Mittelschicht und den Geringverdienern, an Würde und Gerechtigkeit mangelt.

    Noch könnt Ihr gegensteuern, wenn Ihr endlich Eure saturierten Ärsche bewegt. Noch! Aber Ihr habt nicht mehr viel Zeit. Wenn nämlich das Volk erst einmal beginnt, das Gewaltmonopol des Staates in Frage zu stellen, ist es zu spät. Ich möchte für mich, für unsere Kinder und unsere Enkel auf keinen Fall erleben, dass wir erneut ein schmerzliches Lernen, wie 1945, über uns ergehen lassen müssen.

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      Spitze Feder – Spitze Zunge

      Diese Kolumne schreibt vorwiegend Peter Grohmüller seine Gedanken zur Welt und dem Geschehen unserer Zeit auf.
      Seine fein geschliffenen „Ergüsse“ – wie er selbst sie nennt – erfreuen sich großer Beliebtheit.

      Hin und wieder erscheinen in dieser Kolumne auch Beiträge anderer Autoren, die dann jeweils entsprechend genannt werden.

      Die Texte sind Satire, Kommentare und Kolumnen. Es handelt sich um persönliche, freie Meinungsäußerung.

      Für die Texte ist der jeweilige Autor verantwortlich.

      Lesezeit ca.: 10 Minuten | Tippfehler melden | © Revision: 28. Januar 2024 | Peter Grohmüller 28. Januar 2024

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