Spitze Feder

Future Shock

Herbie Hancock 2023

Herbie Hancock poses on the red carpet during an award reception at the Library of Congress for 2023 Gershwin Prize for Popular Song honoree Joni Mitchell, February 28, 2023. Photo by Shawn Miller/Library of Congress. Note: Privacy and publicity rights for individuals depicted may apply.

Im Jahre 1983 veröffentlichte der begnadete Pianist und Keyboarder, Herbie Hancock, sein 35. Album. Es trug den beunruhigenden Titel „Future Shock“…und der Name war Programm.

Zumindest in den Augen und Ohren der Jazz-Polizei. Jene graumelierten Sittenwächter um die 60, die mit akkurat getrimmtem Drei-Tage-Bart, legeren Casual-Bundfaltenhosen, dezent kariertem Tweed-Jackett, dunkelgrauem Rollkragenpullover, Goldrandbrille und Rotwein, in den Jazz-Kellern ihren musikalischen Absolutismus zelebrieren.

Wenn man sich Hancocks ikonisches Jazz-Album „V. S. O. P.“ aus dem Jahre 1976 in Erinnerung ruft, ist „Future Shock“ natürlich ein drakonisches Statement und ein Vorbote auf die Electro-Funk-Ära, den besagte Jazz-Puristen schon damals nicht goutieren konnten. Ähnlich erging es auch Miles Davis, als er damit begann, Synthesizer, E-Bass und E-Gitarren in seine Musik zu integrieren. Zwei Gallionsfiguren des puristischen Jazz besaßen die Stirn, sich von der reinen Lehre zu entfernen und dem Einfluss schnöder U-Musik Tür und Tor zu öffnen. Igitt! Verrat! Blasphemie!

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Dem großen Münchner Mystiker, Valentin Ludwig Fey, alias Karl Valentin, wird das prophetische Bonmot zugeschrieben, dem zufolge die Zukunft auch nicht mehr das sei, was sie einmal war. Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter und bin der Meinung, dass sie auf unbestimmte Zeit verschoben wurde. Denn die Gegenwart erscheint geradezu paralysiert; eingefroren in einer endlosen Litanei aus altbackenen Dogmen und lähmenden Ismen, am Rande der Zurechnungsfähigkeit. Gewiss, es mag, oder es wird vermutlich noch viel dicker kommen, im Sinne von noch mehr Kriegen, noch mehr Börsencrashs, noch mehr Bauern, die eine Frau suchen, noch teurerem Sprit und einem noch drastischerem Mangel an Klopapier, Mehl und Sonnenblumenöl, wie anno 2022…aber Quantität und Qualität haben ja bekanntlich eher selten etwas gemein.

Denn unter Qualität in Bezug auf ihre Zukunft, verstehen 95% der Weltbevölkerung etwas grundsätzlich anderes, als jene 5%, deren Namen auf der Warteliste für den neusten Bugatti Centodieci nicht ganz oben stehen. Sozusagen, alternde Megareiche, die ihren Zenit an Aufmerksamkeit auf dem Boulevard längst überschritten haben; die immernoch mit der gleichen 100-Meter-Yacht ohne Heliport vor Monte Carlo dümpeln, wie in den seligen Zeiten von Ari Onassis und Grace Kelly, und die sich durch ihren allmählich dahinschwindenden Platz im Ranking der Yellow-Press, nachgerade in ihrem physischen Dasein bedroht sehen. So grausam kann schon die Gegenwart sein! Und dann erst die Zukunft? Oh Gott, oh Gott, oh Gott!

In solch existentieller Paniksituation, begreifen sie auch nicht, was Menschen meinen, wenn sie von einem Dach über dem Kopf reden. Wie? Nur ein Dach…? Oder, wenn Menschen solch merkwürdige Dinge einfordern, wie einfach nur genügend zu Essen, wertgeschätzte und fair entlohnte Arbeit, eine intakte Umwelt, medizinische Versorgung, die diese Bezeichnung auch verdient, oder Schulbildung für ihre Kinder. Kurzum: Wenn die restlichen 95% der Weltbevölkerung ebenfalls Frieden, Freiheit und Wohlstand für sich beanspruchen. Dinge, die für uns hierzulande eine Selbstverständlichkeit sind…noch!

Unsere Volksvertreterinnen und Volksvertreter, die für sich reklamieren, „die Mitte der Gesellschaft“ abzubilden, oder 95% der deutschen Bevölkerung irgendwo abzuholen und irgendwohin mitzunehmen, halten jedoch eisern an dem Bestehenden und an dem Bewährten fest. Schließlich mahnte der clevere Kölner Fuchs, Konrad Adenauer, bereits im Wahlkampf 1957: „Keine Experimente“.

Deshalb verteidigen besagte Volksvertreterinnen und Volksvertreter auch Ludwig Erhards altbackenes Dogma aus den guten alten Wirtschaftswunder-Zeiten mit Zähnen und Klauen. Auch heute noch, im 21. Jahrhundert, in dem man Mettigel, Resopal-Tische und Tante Gretes geliebten Verpoorten nur noch von den Schwarz-Weiß-Fotos aus Familienalben kennt. Dieses altbackene Dogma besagt nun mal, dass die einzig durchdachte Art, sinnvoll zu wirtschaften, der Kapitalismus sei. Wenngleich er heute mit der etwas wohlklingenderen Vokabel „Globalisierung“ umschrieben wird. So, wie das Wort „sinnvoll“, durch das gebieterisch auftretende Adjektiv „alternativlos“ ergänzt, wenn nicht gar ersetzt wird.

Betrachtet man die stetig steigende Anzahl an Konflikten und Kriegen, die unsere Art, zu wirtschaften, systemimmanent nun mal hervorbringt, und hält das schulterzuckende Zur-Kenntnis-Nehmen unserer Bevölkerung darüber dagegen…schon seltsam, oder? Ob vielleicht der Zorn über unsere Machtlosigkeit gegenüber „denen da oben“, oder unser Leidensdruck vielleicht noch nicht groß genug sind? Weshalb sonst, sehen wir der Maßlosigkeit und der Übergriffigkeit der sogenannten Eliten, zu Lasten vieler, tatenlos zu, oder sorgen uns eher um den Nachschub an Brosamen, die uns das System am Katzentisch generös vor die Füße krümelt?

Seit die Schriften von Karl Marx in den Status eines UNESCO Weltschrifterbes erhoben wurden, darf man ja bekanntlich daraus zitieren, ohne gleich den Verfassungsschutz auf den Plan zu rufen, oder einen veritablen Shitstorm in den asozialen Netzwerken auf sich zu ziehen. Ob dies auch für Sprüche von Mao Zedong gilt, weiß ich leider gerade nicht. Sei´s drum: Ich gehe das Risiko ein. Denn von der blauen Chefameise stammt der Spruch, dass ein Dogma weniger wert sei, als ein Kuhfladen. Hat was, finde ich. Wladimir Iljitsch Uljanow, alias Lenin, soll sogar einmal gesagt haben, dass er bereit wäre, täglich seine Meinung zu ändern, wenn es der Sache diente.

Da dies jedoch mühevolle Plackerei ohne zusätzlichen Benefit für das eigene Portemonnaie wäre, haben sich unsere Volksvertreterinnen und Volksvertreter bei der Frage „Lenin vs Adenauer“ für letzteren entschieden. Und da Micheline und Michel deshalb von den embedded Medien auch gebetsmühlenhaft ermahnt werden, ja keine Experimente einzugehen und an der Wahlurne bei CDU, CSU, FDP, SPD und den Grünen das Richtige anzukreuzen, wird es bis zum Sankt Nimmerleinstag auch bei einer rein analytischen Betrachtung des Karl-Marx-UNESCO-Weltschriften-Dingenskirchen im philosophischen Elfenbeinturm bleiben…ohne weitere Feldversuche!

Niemand, der seine fünf Kreditkarten noch einigermaßen bei einander hat, wird auf die verwegene Idee kommen, Sozialismus als Gesellschaftsform…? Grundgütiger Himmel! Geht´s noch? Der ist doch in der Sowjetunion und in der Täterä schon mal grandios in die Hose gegangen, oder? Ketwurst, statt Hotdogs? Grilletta, statt Big King? Broiler, statt Chick-Nuggets? Wollen wir nicht! Kuck Dir doch bloß mal die Autos an, die im real existierenden Elend durch die Gegend geeiert sind: Wartburg, Trabant, Moskwitsch, oder Zastava! Für solch einen Schrott haben wir uns schließlich nicht 500 Jahren lang krummgelegt und an die Spitze der Welt geackert, oder? Dafür nicht!

Wir wollen westliches Know-How unterm Arsch und westliches Futter auf unserem Teller haben, und wir wollen und werden da auch keine Abstrichen machen. Bei garnix. Punkt! Wir sind es gewohnt, und wir sehen es als unser verdammtes Recht, bei LIDL, ALDI, REWE und EDEKA immer alles und zu jeder Jahreszeit kaufen zu können. Ende der Durchsage! Und das Geheule von Misereor und Diakonie an Weihnachten über das Elend und die Armut in der Welt, in der Werbepause zwischen den Hollywood-Epen „Ben Hur“ und „Moses“, und die Ermahnungen der Birkenstock-Gutmenschen, Erdbeeren an Weihnachten sei dekadent…Wir wollen und können es nicht mehr hören. Korrekt gegendert, oder nicht. Punkt!

Dumm nur, dass sich das alles ändern wird…zwangsläufig ändern wird, ob wir wollen, oder nicht. Denn die altbackenen Dogmen und lähmenden Ismen haben einen veritablen Konstruktionsfehler in ihrer DNA: Sie funktionieren nur mit stetigem Wachstum und verkennen, dass nun mal alles endlich ist. Auch die Leidensfähigkeit von 95% der Weltbevölkerung!

Als versöhnlicher Schluß dieses Beitrages, noch ein Bonmot der österreichischen Schriftstellerin Ingeborg Bachmann: „Den Menschen ist die Wahrheit zumutbar“. Auch, wenn niemand die Wahrheit über die Zukunft hören möchte. Zumal es sich um einen Future Shock handelt. Das war übrigens nicht von Ingeborg Bachmann, sondern von mir.

Bildquellen:
  • Herbie_Hancock_2023: Von Library of Congress Life - <a rel="nofollow" class="external free" href="https://www.flickr.com/photos/library-of-congress-life/52724015094/">https://www.flickr.com/photos/library-of-congress-life/52724015094/</a>, CC0, Link


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Diese Kolumne schreibt vorwiegend Peter Grohmüller seine Gedanken zur Welt und dem Geschehen unserer Zeit auf.
Seine fein geschliffenen „Ergüsse“ – wie er selbst sie nennt – erfreuen sich großer Beliebtheit.

Hin und wieder erscheinen in dieser Kolumne auch Beiträge anderer Autoren, die dann jeweils entsprechend genannt werden.

Die Texte sind Satire, Kommentare und Kolumnen. Es handelt sich um persönliche, freie Meinungsäußerung.

Für die Texte ist der jeweilige Autor verantwortlich.

Lesezeit ca.: 9 Minuten | Tippfehler melden | Peter Grohmüller: © 27. November 2023

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