Geschichten

Die Wundersalbe

Nosyjosie

Ach Gott, ach Gott, Herrjemine! Josie tut das Ärmchen weh!

Bei uns ist ja nie jemand so schlimm krank wie unsere Josie. Sie leidet und weint wie kein anderer und eine ihrer größten Sorgen ist, daß jemand anders etwas haben könnte und sie dann mal für eine Weile nicht im Mittelpunkt steht. Wenn der Große mal Fieber hat, muß auch Josie irgendwas haben. Vermutlich hält sie so lange die Luft an, bis sie auch Fieber bekommt.

Sehr bewährt hat sich in solchen Fällen der berühmte Bittergallesaft von meiner Großmutter.
Zwar ist meine Großmutter schon 50 Jahre tot und hat diesen Saft gar nicht gekannt, aber das wissen unsere Kinder ja nicht. Hinter dem Bittergallesaft verbirgt sich eine gefährlich aussehende braune Apothekerflasche in die wir ganz normalen braunen Hustensirup eingefüllt haben. Ein kleiner Zweig Thymian in der Flasche sorgt für den Bittergallegeschmack. Der beste und hilfreichste Wirkstoff befindet sich aber nicht in der Bittergallesaftflasche sondern vorne auf ihr drauf, es ist ein warngelber Aufkleber mit einem Totenkopf und zwei gekreuzten Knochen.
Jede Form von kindlicher Simulation wird mit einem Eßlöffel voll Bittergallesaft geheilt. Dabei reicht es in den allermeisten Fällen schon aus, wenn wir Erwachsenen uns betreten anschauen und mit ernstem Gesicht sagen: „Oh oh, da werden wir wohl Urgroßmutters Bittergallesaft nehmen müssen!“
Wie auf wundersame Weise genesen unsere Kinder, vor allem Josie, dann oft binnen weniger Sekunden.

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Sehr hilfreich ist auch eine große uralte Tube Bohnerwachs, von der irgendwann mal das Etikett abgefallen ist. Diese durchsichtige Tube mit ihrem grünen glibberigen Inhalt, der sich schon vor Jahrzehnten in seine Bestandteile zersetzt hat, braucht man nur vorzuzeigen und die magischen Worte sprechen: „Das ist wie Zäpfchen, hinten rein, das tut auch gar nicht weh!“
Erstaunlicherweise sind nach diesem Zauberspruch unsere Kindern nicht nur sofort wieder gesund, sondern für Stunden unter ihren Betten verschwunden.


Für andere Fälle haben wir eine Packung harmlose Lachsölkapseln im Repertoire. Diese Wunderpillen gibt es für kleines Geld im örtlichen Supermarkt und sollen eigentlich die Falten der alternden Haut von innen glätten, oder sowas Ähnliches. Jedenfalls kosten sie nicht viel, haben keine Nebenwirkungen und vermutlich auch keine Wirkung.
Bei unseren Kindern funktioniert der Placeboeffekt noch wunderbar. Falls die Kinder wirklich mal kränkeln und das aus oben beschriebenen Gründen gerne im Doppelpack, weil Josie ja schon aus Gründen der Gerechtigkeit auch immer krank sein will, dann helfen diese Lachsöltabletten wunderbar.

Letzte Woche bekam Josie eine ganz schreckliche Krankheit. Diese äußerte sich durch eine rauhe Stelle am rechten Ellenbogen. Vermutlich müsse man davon gleich sterben, äußerte sie sich unter Tränen. Zu diesem Tränenfluß war es aber erst gekommen, nachdem wir Erwachsenen dieser lebensbedrohlichen Verletzung nicht die gebotene Aufmerksamkeit geschenkt hatten.

Anke und ich waren uns sicher, daß Josie sich diese rauhe Stelle zugezogen hatte, als sie mal wieder auf allen Vieren hinter unserem Hund über den Teppich hergekrabbelt ist. Josie ist (zum Zeitpunkt dieser Geschichte) neun Jahre alt und unser kalbsgroßer Labrador Tibor ihr liebstes Opfer. Die beiden lieben sich, aber dieses Liebesverhältnis wird überwiegend durch den unendlichen Langmut unseres Hundes aufrecht erhalten.
Anke und ich sind uns darüber einig, daß der Hund niemals bestraft werden wird, wenn er eines Tages unsere Tochter fressen sollte.

Was sie mit ihm treibt und was er sich gefallen lassen muß, ist kaum zu beschreiben. Wir bezweifeln nicht, daß sie dem Tier bis zu ihrem Schulterblatt mit dem Arm in den Schlund fährt, nur um mal nachzugucken, was der so gefressen hat. Mehrmals habe ich dem armen Tier auch schon einen Knoten aus den Ohren wieder rausgemacht und einmal erwischte ich unsere Tochter dabei, wie sie dem Tier die Zunge langzog, nur um auszuprobieren, ob die Zunge länger ist, als eine Barbie-Puppe.

Die rauhe Stelle am Ellenbogen muß sie sich als beim Herumtollen mit dem Hund zugezogen haben, nehmen wir an und sind der Meinung, daß das auch von alleine wieder weggeht. Josie sieht das natürlich anders und meint: „Ich habe bestimmt Ellenbogenkrabbe!“
Krebs ist ihr nicht eingefallen.

Unser Sohn Rouven ist da aus etwas anderem Holz geschnitzt. Besonders wehleidig ist er nicht. Allerdings wird auch er manchmal krank, wie das bei Kindern eben so ist. Jetzt hat er seit einigen Monaten an den Schultern und Armen eine etwas rauhe Haut entwickelt. Das hat uns veranlaßt, doch einmal den Arzt aufzusuchen. Glücklicherweise hat keiner von uns irgendwelche Allergien, was wir vor allem darauf zurückführen, daß wir immer schön genau das essen, wo viele Konservierungsstoffe drin sind und daß wir es mit dem Putzen nicht so übertreiben.
Um aber sicherzugehen, daß nicht doch irgendeine Allergie dahintersteckt, fuhr ich mit Rouven zum Kinderarzt.

Josie sah das natürlich gar nicht ein. „Ich bin viel schlimmer krank, als der Rouven“, schimpfte sie und auch der Hinweis auf die Lachsölkapseln und Urgroßmutters bitteren Saft halfen nichts. „Dann nehm‘ ich halt den doofen Saft, ihr werdet schon sehen, mir fällt bestimmt der Arm ab!“

Das wollten wir natürlich nicht und deshalb versprach ich ihr, dem Arzt von ihrer lebensbedrohlichen Krankheit zu erzählen und eine speziell für sie zubereitete Medizin mitzubringen. Sofort stellte sie klar: „Die darf dann der Rouven aber nicht nehmen, gell!“

Der Arzt fand bei Rouven nichts Schlimmes. Das könne mit der hormonellen Umstellung und der langsam einsetzenden Pubertät zu tun haben oder auch vom Schwitzen beim Sport kommen. Jedenfalls sei das harmloser als nichts und wir trotzdem mal eine spezielle Salbe draufmachen, die würde helfen.
Schnell hatte er ein Rezept ausgestellt, die Salbe würde man uns in der Apotheke zusammenmischen.

In der Apotheke wurden wir sehr freundlich empfangen. Offenbar freute sich der Apotheker, daß er mal etwas anderes zu tun bekam, als immer nur Schachteln zu verkaufen. Da ich aus dem unleserlichen Rezept nicht schlau geworden war, fragte ich: „Was mischen Sie denn da jetzt Schönes zusammen?“

„Ich nehme Glycerin als Grundlage, mische 0,5% Zitronensäure dazu, gebe noch Eucerin als Emulgator und Stabilisator dazu und Panthenol zur Hautgeneration. Ich tue dann auch noch einige Tropfen natürliche Duftessenz dazu, damit es gut riecht.“

„Moment mal“, sagte ich, „dann rühren Sie da ja die gleichen Sachen zusammen, die eigentlich auch schon in ganz normaler Nivea-Creme enthalten sind, oder?“

„Nein“, widersprach der Apotheker, „das hier wird eine ganz spezielle Hautschutzsalbe, in Nivea-Creme ist das bestimmt nicht alles drin.“

„Doch doch“, widersprach ich nun auch, „ich bin mir sicher, daß Sie mir eben das Grundrezept von Nivea vorgelesen haben.“

„Das kann nicht sein, mein Herr, denn eine Dose Nivea-Creme kostet ja nur etwas mehr als einen Euro und diese Spezialsalbe würde zehn Euro kosten.“

„Ich glaube aber trotzdem, daß in Nivea das Gleiche drin ist.“

„Dann schauen wir eben nach, das müßte ja auf der Dose draufstehen. Da hinten habe ich welche.“

Zwei Mal mußte der Apotheker seine Brille putzen und las ziemlich lange die Liste der Inhaltsstoffe auf der berühmten blauen Nivea-Dose. Dann kam er langsamen Schrittes zu mir, legte die Nivea-Dose auf die Ladentheke und sagte nur: „Ein Euro fünfundsiebzig, bitte!“

Für nochmals jeweils einen Euro erstand ich zwei sehr nach Apotheke aussehende Salbentiegel. Zu Hause füllte Anke die Nivea-Creme in die Tiegel um und beschriftete eine Dose mit „Rouven NORMAL“ und die andere mit „Josie SPEZIAL“.

Man glaubt ja gar nicht, wie sehr sich unsere todkranke Tochter über diese heilbringende Gabe freute. Mehrmals täglich rieb sie sich mit ihrer Spezialsalbe ein, die wie sie fand auch viel besser riecht als Rouvens, und der Heilungserfolg stellte sich schon nach zwei Tagen ein, die rauhe Stelle am Ellenbogen war verschwunden.

Auch Rouven hat keine rauhe Haut mehr, was für mich der Beweis ist, daß manchmal altbewährte Traditionsprodukte ebenfalls sehr wirksam sind.

Seitdem ist unser Heilmittelrepertoire um die beiden Salbentiegel erweitert worden. Man glaubt ja gar nicht, wogegen insbesondere Josies Spezialsalbe alles hilft!

NIVEA ist ein eingetragenes Warenzeichen der Beiersdorf AG

Hinweis: Die in dieser Geschichte geschilderten Heil- und Behandlungsmethoden sind Fiktion. Im Falle einer eigenen Erkrankung suchen Sie bitte einen Arzt auf. Falls Sie hier nach Gesundheitstipps suchen, gehen Sie nicht über los, ziehen Sie keine 4000 Euro ein und begeben Sie sich direkt in die erfahrenen Hände eines Psychiaters.

Diese etwas ältere Geschichte erscheint erneut. Heute sind unsere Kinder groß und schon allein wegen der Nachstellungen auf Facebook sei der Hinweis erlaubt, daß diese Geschichten natürlich alle frei erfunden sind.

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    Der erfolgreiche Buchautor Peter Wilhelm veröffentlicht hier Geschichten, Kurzgeschichten, Gedanken und Aufschreibenswertes.

    Lesezeit ca.: 10 Minuten | Tippfehler melden | Peter Wilhelm: © 15. März 2015

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