Geschichten

Das Instrument

blockfloete

„Meine Güte, sitzt doch nicht so herum!“, sagte meine Mutter, stellte sich vor mich und stemmte ihre Hände in die Hüften. Ich war damals 9 Jahre alt, es war ein verregneter Sonntagnachmittag und einer der wenigen Tage, an die ich mich erinnern kann, an denen es mir langweilig war. Vorsichtshalber nahm ich das vor mir liegende Buch wieder in die Hände und begann zu lesen, wenigstens tat ich so. Denn eines wußte ich ganz genau: Wenn meine Mutter das Gefühl hatte, ich könnte Langeweile haben, dann würde sie bald anfangen, sich mit mir über die Schule unterhalten zu wollen.

„Spiel doch mal was!“

„Was soll ich denn spielen, ich habe keine Lust.“

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„Nie hast du Lust, was zu spielen!“

„Stimmt doch gar nicht…“

„Ach, hör doch auf! Andere Kinder die machen ja so viel!“

Und dann kam die ganze Litanei, angefangen von der Rechtsanwaltstochter von gegenüber, die so wunderbar Klavier spielte, über den Wunderknaben Joachim, der schon Rilke-Gedichte aufsagen konnte, bis hin zur unsäglichen, pickeligen Bärbel, die immer ihrer Mutter half und auf der Straße allen Erwachsenen die Hand gab.
Ja, die waren ja alle viel toller, besser und natürlich viel fleißiger, gescheiter und begabter als ich und stellten nur die Spitze eines Eisberges dar. In Wirklichkeit kannte meine Mutter 141 Kinder und Jugendliche, die sie mir bei solchen Gelegenheiten als leuchtendes Beispiel aufzuzählen pflegte.
Das Schlimme an der Sache war aber für mich, daß aus meiner kindlichen Sicht damals diese Kinder alle zu den Arschlochkindern gehörten. Das waren nämlich genau die Kinder, mit denen niemand spielen wollte.
Mir wurden also gerade die Kinder als Krone der Schöpfung vorgehalten, die exakt so waren, wie ich keinesfalls sein wollte.

„Du solltest ein Instrument lernen!“

„Ich will aber kein Instrument lernen.“

„Alle anderen Kinder können irgendwas, du kannst nichts, gar nichts!“

„Doch, ich kann schön erzählen und Aufsätze schreiben.“

„Ich meine ja auch was Richtiges. Wir sollten dir ein Instrument kaufen, vielleicht eine Blockflöte, und dich in den Unterricht schicken.“

Sie sprach es, drehte sich um und sagte zu meinem Vater: „Du, der Peter will jetzt unbedingt Blockflöte lernen.“

Vater machte das, was er immer in solchen Fällen machte, er zog die Augenbrauen hoch, strich sich mit der rechten Hand über den Bart und brummte irgendetwas Unverständliches.

„Siehst du“, sagte meine Mutter, an mich gewandt: „Der Papa meint auch, dass du Blockflöte lernen solltest.“

Damit war die Entscheidung gefallen und es stand allgemein fest, daß ich unbedingt Blockflöte lernen wollte. Es hatte, soviel war mir damals schon klar, auch keinen Zweck, dagegen anzugehen, denn sie begann ab diesem Tag, allen ihren Bekannten zu erzählen, daß ich bald schon wunderschöne Hauskonzerte auf der Blockflöte geben würde. Besonders die sechs Damen ihres Kaffeekränzchens freuten sich schon sehr auf diese höchst willkommene Unterbrechung der vierzehntäglichen Kaffeerunden.

Einige Tage später legte meine Mutter mir ein Büchlein neben meinen Mittagsteller. „Die kleine Blockfötenschule“ von Magisterin Hildburga-Maria Rüttelschleuder. Angesichts dieses Ungetüms von Namen suchte ich unwillkürlich nach der mitgelieferten Peitsche.

„So, da kannste jetzt schön lernen!“

„Äh, ich habe doch aber gar keine Blockflöte.“

Das versetze meine Mutter kurzfristig in Erstaunen, offenbar hatte sie bei ihrem ganzen mütterlichen Enthusiasmus und in Erwartung der schönen Konzertnachmittage völlig vergessen, daß zum Blockflötenspiel vor allem eines notwendig ist, nämlich eine Blockflöte.

Solche Fehler passierten meiner Mutter sonst nicht und deshalb brachte sie mein Einwand auch vollkommen aus dem Konzept. An dieser Stelle war es für mich sehr günstig, sofort einzuhaken und der Geschichte eine kleine erste Wendung zu geben.

„Außerdem möchte ich viel lieber ein anderes Instrument spielen!“

Genau in diesem Moment machte sie einen entscheidenden taktischen Fehler, indem sie sagte: „Das ist mir doch egal, was du für ein Instrument spielst, Hauptsache du spielst ein Instrument, damit dir nicht immer langweilig ist.“

Mir war nie langweilig. Ehrlich nicht. Ich las viel, ich hatte viele Freunde und wir konnten wunderbar vor dem Haus und auf dem nahegelegenen Spielplatz spielen. Besonders die in direkter Nachbarschaft liegende katholische Kirche mit ihren vielen Nischen und dem dichten Bestand an Sträuchern boten uns Kindern eine wunderbare Kulisse für alle möglichen Versteckspiele.

Aber nach diesem einen regnerischen Sonntag, an dem mir wirklich einmal langweilig war, stand für meine Mutter fest, daß mir ja immer langweilig war. Auszusprechen mit ganz langem M, also: immmmer!
Dabei war es doch gar nicht meine Schuld, daß man sonntags immer in feine Kleidung gesteckt wurde und keine Freunde besuchen durfte. Normalerweise war der Sonntag für Familienbesuche reserviert. Mutter kaufte dann im Blumengeschäft, die früher sonntags morgens offen hatten, einen Strauß Nelken und wir fuhren zu irgendeinem der zahlreichen Tanten-Onkel-Paare und dort war es meistens wirklich langweilig. Meine Cousins und Cousinen waren nahezu sämtlich bedeutend älter als ich und wollten sich mit einem so kleinen Kind nicht mehr abgeben oder sie waren schon so alt, daß sie gar nicht mehr zu Hause wohnten. Oft kamen die Verwandten auch zu Besuch, das war mir lieber, denn dann brachten sie mir wenigstens etwas mit.
Aber an diesem denkwürdigen Sonntag, an dem meine Mutter beschlossen hatte, daß ich ja schon immer Blockflöte spielen wollte, hatte es geregnet und unsere Verwandten waren alle nicht wasserfest.

Immerhin hatte ich der Sache insofern eine Wendung gegeben, daß mich meine Mutter am nächsten Tag ins Musikhaus „Ismael“ schleppte.

„Der Junge möchte ein Instrument lernen.“

„Aha“, sagte Herr Ismael und griff sogleich zu einer der zahlreichen Gitarren, die von der Decke hingen: „Das wäre zum Beispiel genau das Richtige für ihren Sohn, wir geben nämlich dienstags immer Gitarrenunterricht.“

„Gitarre scheidet aus“, sagte meine Mutter und fügte gleich ihre Begründung hinzu: „Dienstags ist nämlich ganz schlecht.“

Mir ist bis heute nicht klar, warum der Dienstag schlecht war, aber zumindest ist diese Entscheidung mit Schuld daran, daß ich mir das Gitarrenspiel später als Erwachsener mühsam selbst beibringen musste.
Erst später ist mir klar geworden, dass es allein der Geiz war, der meine Mutter vom Kauf eines größeren Instrumentes abgehalten hatte. Größer als eine Blockflöte und teurer als eine einfache Mundharmonika durfte das Instrument zur Bekämpfung meiner ewigen Langeweile nicht sein.

„Dann schauen wir doch mal bei den Tasteninstrumenten vorbei, wir haben wunderschöne Klaviere“, sagte Herr Ismael und ließ auf einem schönen schwarzen Piano ein paar Akkorde erklingen.

Mutter hob ihre Brille etwas an. Das tat sie immer, wenn sie durch den eingeschliffenen Leseteil ihrer Sehhilfe etwas ganz genau sehen wollte. Die damals moderne große Brillenform und ihre Augen korrespondierten nämlich nicht ganz. In diesem Falle wollte sie das Preisschild für das Piano ganz genau sehen. Ich weiß nicht mehr, was das Klavier kosten sollte, jedenfalls war es für unsere 180 Quadratmeter große Wohnung mit sechs Zimmern, von denen eins leer stand, offenbar viel zu groß, denn Mutter sagte: „So ein großes Dingen, nee, das nimmt viel zu viel Platz weg!“

Schade, denn wenn mich irgendein Instrument wirklich interessiert hätte, dann wäre es ein Tasteninstrument gewesen. Zu jener Zeit gab es noch keine Keyboards oder andere preiswertere, kleine Tasteninstrumente. Elektronische Orgeln waren damals sogar noch größer als ein herkömmliches Klavier. Das Einzige was in Herrn Ismaels Laden noch so ähnlich war, war ein Akkordeon.
Das sollte, so stand auf einem Schild, 1.400 Mark kosten und direkt daneben stand auf einem anderen Schild: „Akkordeonstunden, donnerstags 17 Uhr“

Mutter hob wieder ihre Brille, schaute auf das Preisschild und verkündete: „Donnerstag ist auch ganz schlecht.“

Natürlich war Herr Ismael noch nicht am Ende seiner Kunst, denn sein kleiner Eckladen war mehr als voll mit den schönsten Instrumenten. Aber für die Trompete konnte meine Mutter sich ebensowenig erwärmen, wie für alle anderen Instrumente, die im weitesten Sinne eher als laut einzustufende Geräusche erzeugen konnten.

Schließlich wandte sich Herr Ismael den kleinere und preiswerten Instrumenten zu. Auch ihm musste inzwischen klar geworden sein, daß unsere Wohnung unmöglich zu klein gewesen sein konnte, um darin Klarinette zu spielen. Außerdem waren inzwischen alle Wochentage, außer Montag schlecht.
Deshalb zäumte er das Pferd nun vom anderen Ende auf: „Also wenn alle Unterrichtstage außer Montag nicht gehen, dann bleibt uns ja nur dieser Tag. Da haben wir um 15 Uhr Gitarre und um 17 Uhr Blockflöte.“

„Gitarre kommt ja gar nicht in Frage“, lehnte meine Mutter entrüstet ab: „Das werden doch später alles drogensüchtige Rocker, die nur herumstreunen. Sagen Sie mal, Herr Ismael, was ist denn ihr Lieblingsinstrument?“

Etwas konsterniert entgegnete der bis dahin recht freundliche Mann: „Gitarre!“

„Dann nehmen wir die Blockflöte“, verkündete Mutter strahlend und ließ sich die verschiedenen Ausführungen zeigen.

Herr Ismael hatte viele Blockflöten. Angefangen von einem unscheinbaren dunkelbraunen Instrument für 8 Mark bis hin zu wunderschönen Konzertflöten zum sagenhaften Preis von 18 Mark. Insgesamt legte er wohl zwei Dutzend Flöten auf das Filztuch auf seiner Ladentheke. Dieses Mal musste Mutter nicht ihre Brille leicht anheben und deutete sofort und zielsicher auf das dunkelbraune, preiswerte Modell. „Die da, die nehmen wir. Die willst du doch auch, Peter, oder?“

Nein, ich wollte lieber ein Tasteninstrument, aber bevor ich etwas sagen konnte, fuhr sie fort: „Er will die auch, also nehmen wir die.“

„Na ja, er sollte sie wenigstens mal ausprobieren“, wandte Herr Ismael ein und so probierte ich die Flöte aus. Sie roch nach totem Iltis und das Mundstück schmeckte nach Arsch. Fragen Sie mich nicht, woher ich wußte wie Iltis riecht und Arsch schmeckt, wir Kinder waren damals noch viel draußen und uns allein überlassen …

„Die gefällt ihm!“, interpretierte meine Mutter gewohnt dominant mein aus Abscheu zur Fratze verzogenes Gesicht und meinte noch: „Der guckt immer so komisch, wenn’er sich freut!“

So kam es also, daß ich von da an (und noch heute) eine dunkelbraune Blockflöte mein Eigen nannte. Sie riecht übrigens heute noch so merkwürdig, mittlerweile irgendwie nach Lebertran oder Hundekacke, so genau konnte ich das aber nie feststellen, denn ich konnte den Geruch nur ertragen, wenn ich die Luft anhielt.
Jetzt ist es aber so, daß man nur sehr schlecht Blockflöte spielen kann, wenn man die Luft anhält, probieren Sie es mal aus, das geht nicht!

„Jetzt spiel doch mal was!“, forderte mich meine Mutter schon zwei Tage später auf. „Da war doch so ein Übungsheftchen dabei und ich hab dir doch dieses Blockflötenbuch gekauft.“

Tatsächlich, bei der Flöte war ein kleines Anleitungsheftchen dabei. Außerdem eine Hülle aus rauhem Tuch und eine bunte lange Bürste zum Reinigen der Flöte. Diese Bürste steckte von unten in der Flöte und zwar so, daß man sie nicht sah, als ich meiner Mutter die komisch riechende Flöte brachte und sagte: „Die geht nicht richtig.“

„Wie, die geht nicht richtig? Hast du sie schon kaputt gemacht?“

„Nein, das Blasen geht so schwer!“

„Gib mal her!“

Meine Mutter setzte die Flöte an ihre Lippen und ich sah an den flatternden Nasenflügeln, daß auch sie diesen merkwürdigen Geruch nach Iltis, Hundekacke, Arsch und Lebertran wahrgenommen haben musste. Durch so etwas ließ sich meine Mutter aber nicht aus der Fassung bringen und sie blies in die Flöte hinein. Zwar hatte sie selbst niemals ein anderes Instrument als Bügeleisen gelernt, aber sie war davon überzeugt, man könne alles lernen, wenn man nur wolle.
Sie pustete und pustete, aber die in der Flöte steckende Bürste verhinderte, daß auch nur der geringste Ton herauskam.

„Das geht am Anfang immer etwas schwer, so ein Instrument muss bestimmt erst eingespielt werden“, lautete ihre Diagnose und sie probierte weiter. Sie blähte die Backen und bekam einen ganz roten Kopf. Schließlich hatte sie einen so großen Druck aufgebaut, daß es der Bürste in der Flöte zu bunt wurde und sie zischend herausflog. Leider nahm die Bürste bei ihrem Flug durch unser Wohnzimmer eine so unglückliche Flugbahn ein, daß ein kleines Reh aus Porzellan auf so tragische Weise getroffen wurde, daß es ein Bein einbüßte.

Den weiteren Verlauf des Tages habe ich aus meinen Erinnerungen ausgeblendet. Ich weiß nur soviel, daß ich zwei Tage lang nicht richtig sitzen konnte.

Es blieb mir also nicht erspart, jeden Montag mit meiner Blockflöte zu Herrn Ismael zu gehen und dort in einer kleinen Gruppe Gleichaltriger auf der Blockflöte zu blasen. Ich kann nur eines dazu sagen: Das war ganz schön Scheiße!

Das Schlimme waren nicht die anderen Kinder und auch nicht die Tatsache, daß die sehr schnell lernten, dem hölzernen Rohr schöne Töne zu entlocken. Nein, das Schlimme war, daß ich Blockflötentöne grauenhaft fand und mich das Instrument gar nicht interessierte. Zwar hatte ich mich an den Hundekackegeruch inzwischen etwas gewöhnt, aber dafür begann die Farbe am Mundstück abzublättern und man hatte nach dem Üben immer kleine Plättchen vom abgeplatzten, braunen Hundekacke-Lack im Mund.
Ich hasste diese Blockflöte!
In meinen Träumen malte ich mir aus, wie gut die wohl in unserem großen Kohleofen brennen würde.

So sehr ich mich auch bemühte, es wollte mir auch nach intensivem Üben nicht recht gelingen, der Flöte auch nur annähernd die Töne zu entlocken, die andere Kinder darauf produzierten.
Dann kam der denkwürdige Mittwochnachmittag, an dem sich wieder einmal Mutters Kaffeekränzchen zu einem fröhlichen Stelldichein eingefunden hatte. Dieses Mal waren fünf ältere Damen gekommen und hatten schon intensiv der Buttercremetorte, dem anregenden Coffein und dem anschließenden Verdauungsschnäpschen zugesprochen. Solchermaßen gestärkt konnte sich eine der Alten nicht beherrschen und mußte die für mich schreckliche Frage nach dem Fortschritt meiner Flötenkunst stellen.

„Peter, dann hol doch mal Deine schöne neue Flöte und spiel uns mal was vor!“ lautete das Kommando meiner Mutter. Ich wollte protestieren, doch obwohl der Munde meiner Mutter freundlich lächelte, blitze es aus ihren Augen und ich wußte, was dieses Blitzen sagte: „Geh, hol die Flöte und spiele was, sonst ziehe ich dich an deinen Haaren in dein Zimmer und prügele dich mit der Blockflöte bis vor die Füße meiner Kränzchendamen!“

Folgsam wie ich war ging ich brav in mein Zimmer, holte das dämliche, stinkende Blasrohr, Frau Rüttelschleuders kleine Blockflötenschule und baute mich vor dem freilaufenden Altersheim auf.

Auch wenn ich bis zu diesem Zeitpunkt die hohe Kunst des Flötenspiels in keinster Weise beherrschte, so hatte ich doch herausgefunden, wie man einerseits schreckliche hochfrequente Töne auf der Flöte produzieren konnte und wie man es anstellte, daß durch kurzes heftiges Hineinblasen eine gehörige Portion Speichel durch das Flötenrohr sauste.

Frau Rüttelschleuders Flötenbuch legte ich auf die Lehne eines Sessels und baute mich dahinter auf. Die Damen drehten ihre Sessel und Stühle in meine Richtung und schauten mich erwartungsvoll an.

„Das erste Lied, das ich spiele, heißt ‚Kommt ein Vogel geflogen'“, sagte ich und verneigte mich artig. Das brachte mich einen ersten Applaus ein. „Wie niedlich!“ krähte eine besonders dicke Kränzchendame und ich begann.

Die Töne, die ich blies, waren so hoch, daß vermutlich im Umkreis von 50 Kilometern alle Fledermäuse auf Jahre hinaus in ihrem Orientierungssinn gestört waren. Ich sah den alten Damen an, daß sie sich am liebsten die Ohren zugehalten hätten, aber aus Höflichkeit ihrer Gastgeberin gegenüber, mußten sie ja mein Flötenspiel gut finden. Sie nickten artig mit dem Kopf, ihr Lächeln machte jedoch einen eingefrorenen Eindruck. Ich glaubte sogar, daß die dicke Alte, die direkt vor mir saß, verstohlen mit dem Zeigefinger ihrer rechten Hand die Lautstärke ihres Hörgerätes etwas herunterdrehte.

Ich blies, was das Zeug hielt und überschüttete die Frauen mit einer Kakophonie aus atonaler Zwölftonmusik. Heute würde man vielleicht damit Geld verdienen können, aber für die damalige Zeit klang das einfach nur schlecht. Trotzdem bewahrten die Damen Haltung und spendeten meinem ersten Lied freundlichen Applaus. Es muß auch meiner Mutter aufgefallen sein, daß ich nur Untöne produzierte, aber wenn jemand Haltung bewahren konnte, dann war es meine Mutter. Sich nur nichts anmerken lassen, diese Kunst beherrschte sie!
Also kündigte ich mein zweites Stück an: „Jetzt spiele ich die zweite Strophe von ‚Kommt ein Vogel geflogen'“.

Wieder blies ich hoch, sehr hoch und vor allem laut. „Das ist doch schon ganz schön“, meinte eine der Alten und: „Der wird mal ein ganz großer Flötenspieler“, sagte eine andere.
Kann mir irgendjemand auch nur irgendeinen berühmten Flötenspieler nennen? Hat man jemals davon gehört, daß irgendwer dadurch berühmt wurde, daß er besonders gut Flöte spielen konnte? Außer dem Rattenfänger von Hameln fiel mir jedenfalls keiner ein. Und Rattenfänger war das Letzte, was ich damals werden wollte.

Meine Mutter kannte kein Erbarmen. Statt nun dem grausamen Spiel ein Ende zu machen und mich aus der Situation zu entlassen, musste sie mich weiterquälen und sagte: „Der Peter kann bestimmt noch was anderes!“ Sprachs, sah mich auffordernd an und ich ergab mich in mein Schicksal.

„So spiele ich nun die dritte und letzte Strophe von ‚Kommt ein Vogel geflogen'“, sagte ich und erzeugte abermals Töne kurz unterhalb des Ultraschallbereichs. Da die alten Damen aber dabei blieben, mich huldvoll anzulächeln, griff ich nun zu dem einzigen probaten Mittel, das mir einfiel. Ich begann durch die Flöte auf die Alten zu spucken. Mit jedem Ton schleuderte ich etwas von meiner Kinderspucke in Richtung einer der alten Damen.

Das zeigte Wirkung! Als ich es geschafft hatte, jede einzelne von ihnen vollzusabbern und sie sämtlich damit beschäftigt waren, den Sabber mit ihren kleinen weißen Taschentüchern wegzuwischen, erklärte meine Mutter die nachmittägliche Vorstellung für beendet.

Schon am nächsten Tag standen wir wieder bei Herrn Ismael im Musikladen und ließen uns beraten, was es denn für Instrumente gäbe, die einerseits etwas tiefer klingen und andererseits nicht tropfen.
Ich wollte nach wie vor ein Tasteninstrument, ein Klavier war immer noch zu groß für unsere Wohnung und ein Akkordeon war meiner Mutter immer noch zu teuer.
Herr Ismael war nach einer Stunde intensiver Beratung auch am Ende seines Lateins.

In den vorausgegangenen Wochen hatte auch ich mir intensiv Gedanken um meine musikalische Entwicklung gemacht. Ein kleiner Zettel im Schaukasten unserer Kirche hatte mich auf eine Idee gebracht.

„Wie wäre es denn, wenn ich Orgel lerne? Herr Beckmann, unser Kirchendiener, gibt für kleines Geld Orgelstunden in der Kirche.“

Das war die Lösung! Herr Ismael war froh, ein so untalentiertes Kind nicht weiter unterrichten zu müssen und meine Mutter war insbesondere von dem Gedanken angetan, in diesem Falle gar kein Instrument anschaffen zu müssen.
Ich persönlich hatte mich schon allein deshalb für das größte Instrument der Welt entschieden, weil so absolut sichergestellt war, daß ich es niemals zu Hause oder anläßlich unserer sonntäglichen Verwandtschaftsbesuche mitnehmen musste, um etwas darauf vorzuspielen.

Nicht nur die anwesenden Beteiligten waren froh über meinen Vorschlag, auch unser Küster, Herr Beckmann, war glücklich. Weil er von hohem, dürren Wuchs war, schlohweißes langes Haar hatte, immer einen langen schwarzen Talar trug und im Krieg ein Auge eingebüßt hatte, fürchteten sich alle anderen Kinder vor ihm und ich wurde sein einziger Schüler.

Zugegebenermaßen war er kein Virtuose auf der Kirchenorgel, doch wußte er das Instrument wenigstens anständig zu bedienen und konnte alle gängigen Kirchenlieder darauf spielen. Ich lernte fleißig, übte viel und war besonders stolz, als er mir eines Tages einen Schlüssel für die Kirche überreichte, damit ich auch ohne ihn jederzeit an die Orgel konnte.

Schon nach kurzer Zeit konnte ich ein überschaubares Repertoire aus dem katholischen Gesangbuch spielen, was mir später, während meines Studiums, so manche Mark als Beerdigungsorganist nebenbei einbringen sollte.
Meine Mutter war stolz, daß ich irgendwas konnte, ich war froh, nicht vorspielen zu müssen und so waren am Ende alle glücklich und zufrieden.
Einmal durfte ich am Heiligen Abend zum Abschluß des Gottesdienstes „Stille Nacht, heilige Nacht“ spielen, was meine Mutter mit noch größerem Stolz erfüllte. Obwohl sie nur 1,60 groß war, überragte sie an diesem Abend alle anderen Frauen in der Kirche bei weitem.

So kam es, daß ich auch heute noch ganz leidlich Orgel spielen kann, aber eben nur „Stille Nacht, heilige Nacht“ und einige Beerdigungschoräle.
Es ist nie ein Organist aus mir geworden, denn mir blieben die großen Konzertwerke auf der Orgel mangels Interesse und Begabung stets verschlossen, unter anderem auch weil ich ziemlich notenfaul bin.

Warum erzähle ich das alles? Nun, weil ich in diesem Jahr zu Weihnachten endlich einen, lange schon geäußerten, Wunsch erfüllt bekam. Ich habe eine schöne Gitarre bekommen. Es steht in den Sternen, ob ich sie jemals spielen werden kann, aber ich wollte seit jenem Tag im Musikalienhandel des Herrn Ismael immer eine Gitarre besitzen.

© 2007, Mehr satirische Geschichten findest Du hier im Index und natürlich im aktuellen Buch des Autors Peter Wilhelm, das Du im Buchhandel oder hier bestellen kannst.

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    Lesezeit ca.: 24 Minuten | Tippfehler melden | Peter Wilhelm: © 16. November 2015

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