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Abendessen mit Kartoffel

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In dieser Geschichte spielen folgende Personen eine Rolle: Anke, meine Frau, die häufig nur kurz die Allerliebste genannt wird, und unsere beiden Kinder, Josie ( damals 7) und der Junge, Rouven ( damals 11). Gustav und Magda sind Ankes Eltern, also meine sogenannten Schwiegereltern. Magdas Hobby ist es, Marzipan selbst zu machen, mit dem sie nicht nur uns, aber hauptsächlich uns, sehr reichlich versorgt.

Abendessen mit Kartoffel

Wir sind bei Gustav und Magda zum Abendessen eingeladen. Da Marzipan1 keine vollwertige Mahlzeit ist, gibt es aus dem üppigen Repertoire bunter Rezepte, die Magda beherrscht, einen herrlichen Wurstsalat.
Ihr Küchenrepertoire ist sehr umfangreich. Sie kann Wurstsalat und Haschee.
Von der Existenz einer Speise namens Haschee hatte ich bis zu meinem Wegzug aus dem Ruhrgebiet nie etwas gehört.
Im wesentlichen handelt es sich dabei um Hackfleisch, das in einer Pfanne in eine braune, undefinierbare Pampe verwandelt wird.
Da man diese braune Pampe aus Hackfleisch zu Kartoffeln, Nudeln und Reis essen kann, sind das allein ja schon drei verschiedene Gerichte. Mit dem Marzipan und dem Wurstsalat beherrscht Magda also fünf verschiedene Rezepte, die sie uns in abwechslungsreicher Reihenfolge immer mal wieder serviert.

Mit den Kindern sind wir also zu sechst. Bekanntermaßen essen unsere Kinder nicht gerade wenig. Deshalb reicht, nach Magdas Meinung, auch ein kleines Schüsselchen mit Essen für uns alle vollkommen aus.
Gustav ist an solchen Abenden immer etwas gereizt.
Er möchte gerne grundsätzliche Betrachtungen über das Dasein anstellen. Außerdem will er ganz sicher auch noch etwas von früher erzählen. Da außer ihm aber noch fünf andere Personen anwesend sind, kommt er oft nicht ausreichend zu Wort. Und das ist seiner Meinung nach auch dann der Fall, wenn er den ganzen Abend redet.

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Ist er gereizt, dann klopft er mit der flachen rechten Hand in einer Mischung aus Zorn und Langeweile im Takt der Worte ‚gleich fresse ich euch’ auf den Tisch. Dazu macht er dann das passende Gesicht.

„Esst nur tüchtig!“, fordert uns Magda auf. „Ich habe noch jede Menge draußen in der Küche.“

Dann nimmt sie jenes winzige Schälchen und füllt zuerst Josie, ihrem armen ‚Mädele’, das ja immer zu kurz kommt, den Teller. Nun ist das Schüsselchen so gut wie leer. Also holt sie für Rouven eine vorbereitete Brühwurst aus der Küche, während wir Erwachsenen erstaunt auf die drei, vier winzigen Brocken Wurstsalat starren, die noch übrig sind. Irgendwie schafft es die Allerliebste, etwa zwei Gabeln voll für jeden daraus zusammenzukratzen. Gustav kommentiert, er esse ja als alter Mensch sowieso kaum noch was, und Magda wischt sich nach einem kleinen Happen schon den Mund ab und erklärt, sie sei ja sowas von satt und können abends nicht mehr solche Mengen vertilegn.

Ich schaue auf meine zwei Gäbelchen Wurstsalat und habe schon fast ein schlechtes Gewissen. Wäre er nicht immer so fürchterlich versalzen, würden mir die zwei Gabeln voll vermutlich sogar ganz gut schmecken.

„Greif zu!“, ermuntert mich Magda, da aber da Schälchen leer ist, nehme ich mir zwei Stückchen trockenes Brot dazu.
Gustav klopft mit der Hand und sein Kommentar lautet: „Das letzte Stück Brot sollte man immer liegen lassen, dann wird man auch nicht so fett!“

So herzlich zum Essen aufgefordert, langen Anke und ich tüchtig zu und kauen jede Faser des Wurstsalates mindestens 20 mal.
Ich habe irgendwo gelesen, daß das helfen soll, wenn man dem Hungertod entgehen möchte.

Magda geht in die Küche und holt den üppigen Rest vom Wurstsalat. Es ist noch so ein kleines Chinesenschälchen voll. Das arme Mädele bekommt wieder den Löwenanteil, die anderen bekommen auch noch jeder einen Klecks.

Nach dem Essen folgt ein ganz besonderes Ritual. Gustav serviert Schnaps.
Was die Getränke anbetrifft, ist Gustav immer sehr freigiebig. Leider hat Gustav für den Schnaps einen speziellen Lieferanten in der Pfalz, der wunderbare Gemüseschnäpse macht.
Das ist zunächst einmal nur ein ganz normaler Schnaps. Allerdings schwimmt in der Flasche jeweils ein Gemüse. Das ist dann eine Avocado oder eine Spargelstange, kann aber auch eine Kartoffel oder ein Stück Sellerie sein. Natürlich ist das Gemüse roh.

Von diesen vegetabilen Unmöglichkeiten hat Gustav rund 300 Flaschen im Keller. Glücklicherweise nimmt der Schnaps von dem Gemüse nichts an, sodaß man ihn sehr gut trinken kann.
Das Ganze wird erst dann zu einem Problem, wenn der Schnaps in der Flasche nicht mehr ausreicht, um das Gemüse zu bedecken.

Dann nämlich muß Gustav es mit einem langen dünnen Messer in der Flasche zerschneiden und die Stücke herauspopeln. Jeder bekommt dann ein kleines Tellerchen und muß von dem mit Schnaps getränkten, aber rohen Gemüse essen.

Grauenvoll!

Zuerst hat es, aufgrund seines schlanken Wuchses, den Spargel erwischt. Schon nach drei ausgeschenkten Gläsern steckte er frech seinen Kopf aus dem Schnaps und mußte von uns vertilgt werden.
Bei vier Erwachsenen blieb da nur ein kleines Stück für jeden. Aber, wie soll ich es sagen, der Spargel übertraf an Ungenießbarkeit sogar noch Magdas Marzipan!

Seitdem passen die Allerliebste und ich auf! Gustav fragt ja vorher immer, welche Sorte wir wollen. Und nun achten wir ganz intensiv darauf, daß wir auf gar keinen Fall eine Gemüsesorte wählen, bei der die Gefahr besteht, daß sich der vegetarische Anteil entblößt.
Beim Rhabarber winken wir immer ab und auch der Stangensellerie findet keine Zustimmung. Gute Chancen hingegen haben die dicke Kartoffel und die runde, schwere Rote Beete. Beide Feldfrüchte lümmeln sich nämlich träge am Boden ihrer Flaschen herum.

Als Gustav uns heute fragt, kommt es unisono und wie aus der Pistole geschossen: „Kartoffel!“

Von der Kartoffel wissen wir nämlich von früheren Besuchen, daß die noch reichlich von Alkohol bedeckt ist und noch ein paar Abendessen im Familienkreis vergehen werden, bis hier Gefahr droht.
Doch ganz augenscheinlich hat Gustav inzwischen andere Gäste gehabt. Denn als er die Flasche vor uns auf den Tisch stellt, ist der Schnapsspiegel nur etwa einen Zentimeter von der Knollenfrucht entfernt.
Mir kommt eine geniale Idee. „Wie wäre es, wenn wir ein Spiel spielen? Laßt es uns doch so machen, daß derjenige, der die Frucht entblößt, sie auch ganz alleine zu Essen bekommt!“

Anke grinst ob meiner Klugheit und erstaunlicherweise sieht auch Gustav keinen Diskussionsbedarf.
Entspannt lehne ich mich zurück. Gustav ist ein hervorragender Gastgeber und wird zuerst seinen Gästen und dann seiner Frau einschenken. Es wird also unweigerlich ihn treffen, die grausame Köstlichkeit aus den Tiefen der Pfalz essen zu müssen.
Magda stellt vor jeden von uns ein leeres Glas. Gustav öffnet umständlich die Flasche.

„So, zuerst die Dame des Hauses, die so vorzüglich für uns gekocht hat“, sagt er und schenkt Magda etwas ein.

Danach folgt ein prüfender Blick auf die Kartoffel. Sie ist noch gut einen halben Zentimeter bedeckt. Warum, um alles in der Welt gibt er Magda auch zuerst? Die hat nicht mal richtig gekocht, sondern nur kalten Wurstsalat gemacht und der war auch noch Mist! Na ja, wenigstens werde ich als Nächster vom Schnaps bekommen und damit der Kartoffelgefahr entgehen.

Doch Gustav zieht triumphierend die Augenbrauen hoch und verkündet: „Jede schöne Frau hat eine schöne Tochter!“, und gießt Anke das nächste Glas ein.

Was soll das? Gustav schießt seiner Tochter bei jeder sich bietenden Gelegenheit ins Knie! Er behandelt meine Frau wie einen Fußabtreter und nimmt sie, wenn überhaupt, nur wahr, indem er ihr über den Mund fährt oder sie kritisiert. Aber jetzt, da es um die doofe Kartoffel geht, tritt er all seine lieben Gewohnheiten mit Füßen und behandelt sie bevorzugt. Ich finde das gemein!

Nach diesem erneuten Ausfluß hat die Kartoffel nur noch eine ganz dünne Schicht Schnaps über dem Haupt und mir tritt kalter Schweiß auf die Stirn. Das reicht gerade noch für ein Glas und derjenige, dem Gustav jetzt einschenkt, der wird ungeschoren davonkommen.

Als guter Gastgeber MUSS er mir einschenken und damit wird er selbst in den zweifelhaften Genuß der Kartoffel geraten! ER MUSS!

Noch einmal hebt Gustav die Flasche prüfend vor die Augen, dann gießt er sich mit ätzend langsamen Bewegungen selbst ein! Warum tut er das? Seit wann gibt man seinem Gast zuletzt? Ein unhöflicher Patron!

„Ich nehme mir zuerst und dann gieße ich meinem lieben Schwiegersohn ein“, sagt er und fügt hinzu: „Ihm soll als Gast die Ehre gebühren, diese schöne Knolle ganz alleine essen zu dürfen!“

„Ich will aber nicht!“, protestiere ich sofort.

Magda, die Hyäne, fällt mir in den Rücken: „Wer war es denn, der dieses Spiel vorgeschlagen hat? Du hast sie ja unbedingt für dich alleine gewollt!“

„Nein, das stimmt ja gar nicht! Ich trete sie herzlich gerne an dich ab.“

„Ich hätte sie wirklich gerne gehabt, aber Spiel ist Spiel, jetzt iß die Kartoffel mal schön alleine. Du kannst dir ja während des Essens einmal überlegen, wie ungerecht und selbstsüchtig dein Verhalten ist!“

„Aber ich will sie wirklich nicht!“

„Iß!“, sagt Gustav und klopft mit der Hand, und aus dem Takt erkenne ich schwach die Melodie von „Spiel mir das Lied vom Tod.“

So sitzen fünf Leute um mich herum und schauen zu, wie ich mit Todesverachtung die Schnapskartoffel essen muß. Man kann sich gar nicht vorstellen, wie grauenvoll das Teil schmeckt.
Der Alkohol hat die Kartoffel zwar etwas aufgeweicht, aber trotzdem ist sie noch ganz roh.
Die Schale hingegen ist aufgequollen und schmeckt wie besoffene Tiefseequalle.

Es dauert eine geschlagene halbe Stunde, bis ich den letzten Rest aufgegessen habe. Keiner feuert mich dabei an!

Gustav klopft mit der Hand, Anke grinst verschmitzt und Magda ist beleidigt.
Die Kinder haben inzwischen ein Stück herrliche Sahnetorte bekommen. „Kinder dürfen ja keinen Schnaps!“

Endlich habe ich es geschafft!
Die Kartoffel ist weg, mir ist schlecht und Gustav ist jetzt auch beleidigt. „Du hättest uns ja wenigstens ein kleines Stückchen anbieten können.“

Ich will aufspringen und ihn, mitsamt seiner beleidigt dreinschauenden Frau, mit einem Handstreich töten, doch Anke hat ihren Arm um mich gelegt und preßt mich auf meinen Stuhl.
Was für eine Kraft diese Frau hat!

Es dauert eine Viertelstunde bis ich mich beruhigt habe. Leider bekommt mein Magen von der allgemeinen Beruhigung nichts mit und beginnt zu rebellieren.
Warum bekomme ich immer Magenprobleme, wenn Magda oder Gustav mir irgendwas kredenzen?

Magda steht auf und verschwindet in der Küche.

Gustav klopft mit der Hand und es herrscht Schweigen.

Die Allerliebste versucht die Situation zu retten, doch leider fällt ihr nichts Intelligenteres ein als: „Kartoffeln enthalten ja viel Stärke.“

Das ist das Startkommando für Gustav. „Früher haben wir mit einer Kartoffel die komplette Familie eine ganze Woche lang ernährt! Wir hatten ja nichts.“

Irgendwas muß ich dem entgegensetzen und sage: „Mit einer Kartoffel, das glaubst du ja wohl selbst nicht.“

„Doch! Man kann aus Kartoffeln ja soviel machen. Zuerst haben wir die Kartoffel mit Schale gekocht. Das war eine leckere Suppe. Am nächsten Tag haben wir aus der in Streifen geschnittenen Schale Röstis gemacht. Die Pfanne haben wir mit dem Rest des Kochwassers ausgeschwenkt, das gab dann wieder eine Suppe für den dritten Tag. Am vierten Tag haben wir uns ein paar Scheibchen von der Kartoffel gebraten. Am fünften Tag wurde der Rest zu Reibekuchen verarbeitet.“

„Meine Güte, und den Rest der Woche habt ihr gehungert?“, frage ich scherzeshalber.

„Nein, da haben wir die Reste von den Vortagen gegessen!“

Kein Wunder, dass Gustav so sauer ist, habe ich doch soeben seine Familie an den Rand des Hungertodes gefressen. Meine Güte, wie konnte ich nur? So ein Spinner!
Glücklicherweise war die Verstimmung der Schwiegereltern nicht von Dauer.

Ich bin aber fest entschlossen, Gustav zum Geburtstag einen Zentner Kartoffeln zu schenken.

1 Was es mit dem Marzipan auf sich hat, steht in dem Buch „Zum Hieressen oder zum Mitnehmen?“ von Peter Wilhelm. Mehr satirische Geschichten findest in diesem Buch oder im Index des dreibeinblog.de


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Der erfolgreiche Buchautor Peter Wilhelm veröffentlicht hier Geschichten, Kurzgeschichten, Gedanken und Aufschreibenswertes.

Lesezeit ca.: 14 Minuten | Tippfehler melden | Peter Wilhelm: © 17. September 2010 | Revision: 6. Oktober 2016

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