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Spitze Feder

Erdogan kocht vor Wut: Es war Völkermord

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Armenischer Showdown in Downtown Berlin

Am 02.06.2016 erblickte ein völlig neues Modell historischer Ereignisse die Welt: die Meta-Zäsur. Also schon irgendwie eine Zäsur, aber dann wieder doch nicht so richtig. Jedenfalls wurde über etwas dermaßen Historisches abgestimmt, und das kann man wahrlich als einen finalen, was sage ich, das war DER brutalstmögliche, der demokratischste Showdown in Berlin, den die Welt je gesehen hat. Sie reibt sich übrigens heute noch verwundert die Augen, also die Welt.

Faktencheck:
Am 24. April 1915 veranlasste die 1908 an die Macht gekommene und – im Gegensatz zur multikulturellen Politik des Osmanischen Reiches – nationalistisch orientierte jungtürkische Bewegung um Talât Pascha die Verhaftung und Deportation armenischer Intellektueller in Istanbul und leitete damit einen Völkermord an den Armeniern ein.
Quelle: Wikipedia

Nahezu einstimmig hat der Bundestag einen Antrag von rot-grün-schwarz-blau-lila-mint und weiß der Geier, welche Farbenkonstellation noch die Finger in jener ranzigen Brühe hatte, jedenfalls wurde der Antrag angenommen. Solch robuste Beweise von Demokratieverständnis und deren knallharte Durchführung ist man von dem niederträchtigen Hause eigentlich nur beim Thema Diätenerhöhung gewohnt.

Oha, ich fürchte, ich habe im Schwindel meiner Euphorie ob dieses historischen Geschehens völlig vergessen, zu erzählen, was vermutlich alle Leser wissen, oder zumindest zu wissen glauben, nämlich worum es ging: jetzt ist es quasi amtlich. Man darf ab sofort die letale Umsiedlung von anderthalb Millionen Armeniern durch die Osmanen, geschehen vor 100 Jahren, als Völkermord bezeichnen; und dies sogar ungestraft – nun ja, zumindest bis auf Widerruf.

Die ganze Veranstaltung hatte nämlich einen schalen Beigeschmack, der die Option einer nachträglich diplomatische Korrektur im Sinne einer Durchführungsverordnung durch den Ministerrat der Europäischen Kommission, in Anlehnung an das allgemeine Antidiskrepanz, oder was auch immer für ein Gesetz, kurzum: ich würde mal warten mit vorschnellen Kommentaren. Nicht, dass die Ermächtigte aus Meck-Pomm wieder den Generalbundesanwalt von der Kette, weil Erdogan, oder so, Ihr wisst schon.

Übrigens: sagte ich „einen“ schalen Beigeschmack? Sorry, es war eine ganze Melange von übelsten Aromen, die einem den soeben wieder gewonnen Glauben an die parlamentarische Demokratie in diesem unserem Lande reichlich vergällen kann. Glänzten doch gleich drei C-Level-Schwergewichte der Bundesregierung wie die Speckschwarten, und zwar auf das Erbärmlichste durch Abwesenheit.

Zum Ersten Angela „Aishe“ Mergül, ihres Zeichens devoteste Wasserträgerin des tobsüchtigen Sultans vom Bosporus, zum Zweiten der Bundeswirtschafts-Siggi, der vermutlich nicht abkömmlich war, weil er mit einem aber dermaßen so was von geheim tagenden Gremium das nächste Bündel an TTIP-Lügen für die Leitmedien formulieren musste, und last but not least die dauerfliegende Weißkopf-Schnee-Eule, die sich, nach Meldungen aus unbestätigten, jedoch stets gutunterrichteten Quellen, besorgt über die Lage der Menschenrechte in Absurdistan, und dass dieses Land noch einen weiten Weg vor sich, aber es wäre ein fataler Fehler, jetzt mit den Bemühungen, oder eben so etwas in der Art, ist ja auch scheißegal.

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Und wenn Rumpelstilzchen sich auf den Kopf stellt: Er kann uns nichts diktieren.

Die nächste derangierende Peinlichkeit bei dieser sinnfreien Debatte war der Versuch, der Bevölkerung zwei diametrale Gegensätze als in sich konsistent zu verkaufen: die diebische Freude, der türkischen Nervensäge über die elegante Form einer freien und geheimen Abstimmung endlich mal ungestraft eins vor den Koffer scheißen zu können, gepaart mit speichelleckender vorauseilender Entschuldigung, dass das ja alles schon so lange her ist mit den Armeniern, und dass das deutsche Kaiserreich ja auch noch die Finger mit im Spiel, und dass die jetzige Türkei natürlich nichts damit zu tun, aber irgendwie doch schon Rechtsnachfolgerin des Osmanischen Reiches, oder war es die Bundesrepublik als Urururenkel von Wilhelm zwo? Was soll´ s, wir bleiben Freunde, also Deutschland und die Türkei, und hoffen halt mal, dass der Kalif nicht auf die verwegene Idee kommt, uns als Retourkutsche ein paar Tausend Syrer zu reservieren, wenn Aishe mal wieder in Istanbul weilt. „Sollen gleich einpacken, zum Mitnehmen?“.

Was ich nicht ganz auf die Reihe kriege: weshalb ausgerechnet jetzt, heute, 2016, dieser demokratische Kraftakt, diese peinlich angestrengte Simulation von Integrität? Wer hat das angeordnet und wer profitiert von diesem Schmierentheater? Welche Unbotmäßigkeit geht derweilen en passant im Hintergrundrauschen über die Bühne, zugemüllt durch den medialen Shitstorm, subtil aber perfide, wie üblich? Den anderthalb Millionen Armeniern wurde schließlich, wie bereits erwähnt, schon vor 100 Jahren der Garaus gemacht. Da wäre doch schon viel früher Zeit gewesen, mal ordentlich auf den Putz zu hauen, oder?

Keine Türkenschelte, der „Reichspropangasminister“ hatte auch seltsame Vorstellungen vom Volk ohne Raum.

“ OK, der Reichspropagandaminister und die Presse im Tausendjährigen hatten ihre eigenen Ansichten zum Thema Eigentumsverhältnisse und Verwertung freistehender Immobilien. Damals nannte man es Arisierung und war irgendwie auch alternativlos für das Volk ohne Raum. So zumindest konnte man es den offiziellen Bulletins im Stürmer und dem Völkischen Beobachter entnehmen. Von daher konnte man wahrlich keine Schelte gegenüber dem Türken erwarten.

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Reichspropangasminister Joseph Goebbels

Aber Adenauer hätte doch schon mal, oder? Der war schließlich nach 45 erst Kölner Oberbürgermeister und dann Bundeskanzler, der erste in der jungen Republik. Und er hatte zudem null braunen Flecken auf der Weste. 100 % Nazi- und phosphatfrei – im Gegensatz zum überwiegend Teil der sonstigen Abgeordneten im ersten deutschen Bundestag. Man munkelt, dass dieser zu etwa zwei Dritteln aus altgedienten und hochdekorierten Nazis bestand. Adenauer waren also quasi die Hände gebunden.

Konrad Adenauer - Herrisch, aufmüpfig, aber ohne braune Flecken auf der Weste

Konrad Adenauer – Herrisch, aufmüpfig, aber ohne braune Flecken auf der Weste

Das ganze braune Rattenpack musste also erst den Weg alles Irdischen gehen, bis sich den Volksvertretern endlich die Gelegenheit bot, heuer den Völkermord an den Armeniern als solchen zu bezeichnen? Muss man das nun als Rücksichtnahme auffassen? Irgend etwas mit Pietät, oder so? Also nicht gegenüber den Armeniern, sondern gegenüber den Völkermördern, ob mit Kugelschreiber oder Sturmgewehr ist dabei Wurscht.

Möglicherweise ist es aber schon fünf vor zwölf. Es brodelt schon wieder mächtig im völkischen Hintergrund. Vielleicht haben die rot-grün-schwarz-blau-lila Mahner gerade noch so das sich allmählich schließende Zeitfenster erkannt. Vielleicht mussten sie einfach genau jetzt diese historische Großtat schnell aus der Hüfte feuern, bevor das braune Dreckspack wieder die Richtlinienkompetenz für sich beansprucht. Schätze, dass wir Herbst 2017, nach der nächsten Bundestagswahl mehr wissen.


Bildnachweis: Alle Bilder PD CC0 Quelle Pixabay.
Bild Adenauer: Von Bundesarchiv, B 145 Bild-F078072-0004 / Katherine Young / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5356485
Bild Erdogan: courtesy © BBC
Bild Goebbels: Von Bundesarchiv, Bild 146-1968-101-20A / Heinrich Hoffmann / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5418791


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Spitze Feder – Spitze Zunge

Diese Kolumne schreibt vorwiegend Peter Grohmüller seine Gedanken zur Welt und dem Geschehen unserer Zeit auf.
Seine fein geschliffenen „Ergüsse“ – wie er selbst sie nennt – erfreuen sich großer Beliebtheit.

Hin und wieder erscheinen in dieser Kolumne auch Beiträge anderer Autoren, die dann jeweils entsprechend genannt werden.

Die Texte sind Satire, Kommentare und Kolumnen. Es handelt sich um persönliche, freie Meinungsäußerung.

Für die Texte ist der jeweilige Autor verantwortlich.

Lesezeit ca.: 7 Minuten | Tippfehler melden | © Revision: 3. Februar 2020 | Peter Grohmüller 3. Februar 2020

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