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Geschichten

Das waren ja mal 12 Euro

Die Gemüsefrau steht etwas gelangweilt hinter ihren Gurken und sortiert Äpfel ins Regal. Die betagte Kundin vor der Theke hat endlich die zwei dünnen Stangen Schnittlauch und die drei Zwiebeln für ihr opulentes Mittagsmahl herausgesucht und sagt: „So, das wär’s dann.“
Mit hochgezogenen Augenbrauen sagt die Gemüsefrau: „Ein Euro, das macht einen Euro.“

„Was? Ein Euro, das ist aber teuer. Das waren ja mal 2 Mark!“ kräht die alte Kundin, legt der Gemüsefrau einen Euro auf die Theke, nimmt ihre Ware und geht.

Ja wirklich, ein Euro, das waren mal zwei Mark, also fast wenigstens. Eigentlich war ja der Euro bei seiner Einführung ja nur irgendwas um 1,95 D-Mark wert, aber der Einfachheit halber rechnen die Leute eben 1:2.

„Heute is‘ wieder so kalt draußen“, sagt die Gemüsefrau zu mir: „Es sind bestimmt bloß 16 Grad.“

Ich nicke und sage: „Ja, 16 Grad, mein Gott, das waren früher auch mal 32 Euro.“

Sie nickt und nimmt diesen Blödsinn wie selbstverständlich hin. Nicht einmal ein ungläubiger Blick oder ein Zucken in ihrer Mimik. Sollte das allgegenwärtige Euro-Umrechnen schon so in den Köpfen der Menschen verankert sein, daß die eine Hälfte sowieso alles automatisch 1:2 umrechnet und die anderen Hälfte, jene Hälfte, die das gar nicht mehr interessiert, pauschal weghören?

Ich mache den Versuch. Der Taxifahrer, der mich zum Bahnhof bringt, knurrt am Ziel über die Schulter „Achtzehnvierzich“.
Ich frage: „Wieviel Kilometer waren das jetzt genau?“
Er ächzt sich aus seinem Sitz etwas nach vorne und blickt auf seinen Taxameter und sagt: „Knapp acht Kilometer.“

Aus dem Geldbeutel zücke ich einen Zehner und sagte: „Acht Kilometer, meine Güte, ist ja wirklich alles teurer geworden, acht Kilometer, das waren ja auch mal 16 Euro.“

„Da sagen ’se watt! Alles ist teurer geworden. Mallorca war früher 200 Mark und jetzt isses 400 Euro, datt is‘ datt Doppelte. Scheiß-Euro!“

Der Mann kann wirklich rechnen. Ich gebe ihm den Zehner und sage: „Hier, der Rest ist für Sie, das waren ja mal 20 Mark, paßt schon.“ Und obwohl der Schein nicht einmal die Hälfte des Fahrpreises ausmacht, grinst der Mann, nickt, sagt brav „Danke“ und steckt den Schein ohne weiter nachzudenken in sein Portemonnaie. Dabei sagt er: „Der Sprit is ja auch so teuer, früher habe ich zweimal die Woche tanken müssen, jetzt muß ich dreimal die Woche an die Zapfsäule.“
Damit der Mann nicht um sein Geld betrogen wird, gebe ich ihm noch einen Zehner und sage: „Das ist grauenvoll. Früher kam man mit einer Tankfüllung 700 Kilometer weit; und heute? Seit dem Euro nur noch die Hälfte.“
Er nickt heftig.

Beim Arzt im Wartezimmer wird nur geflüstert. Offenbar gibt es da eine unausgesprochene Regel, an die sich jeder zu halten müssen glaubt, daß man nur ganz leise sprechen darf. Ach, was würde ich es mir wünschen, die Menschen würden dieses Flüstergelübde auch in Speisegaststätten einhalten, aber da haben wir immer irgendein lautes Ehepaar, daß sich ausgerechnet den Tisch direkt neben uns aussucht.
Doch heute sitzen beim Arzt zwei alte Männer, vier Meter voneinander entfernt und unterhalten sich sehr laut. Vielleicht hören beide nicht mehr so gut.

Sie freuen sich, daß die Praxisgebühr in Höhe von 10 Euro pro Quartal abgeschafft worden ist.
„Ich bin froh, daß der Streß vorbei ist“, sagt der eine.

„Ich auch“, antwortet der andere: „Da haste am Quartalsanfang Deine 10 Euro abdrücken müssen und dann mußtest du ja auch ein paar Mal zum Doktor gehen, damit sich das lohnt.“

„Bin jede Woche gegangen, wenn es schon 10 Euro kostet, dann will ich auch was für mein Geld. Müßte ja eigentlich nur alle 12 Wochen herkommen, aber wenn’s was kostet, gehe ich öfters.“

Ganz beiläufig werfe ich ein: „Waren ja schließlich auch mal 20 Mark.“

Auf einen Schlag erwacht das ganze Wartezimmer aus seiner Lethargie, die abgegriffenen Modezeitschriften und ADAC-Magazine werden weggelegt und jeder hat etwas zu dem Thema beizutragen.

Eine Frau sagt: „Schlimm war das ja in der Gastronomie, die haben ja 1:1 umgestellt. Das Rumpsteak hat vorher 19 Mark gekostet und heute kostet es 16 Euro. Ein zu Eins haben die das umgestellt.“

Vorsichtig wende ich ein: „Es sind ja inzwischen auch mehr als zehn Jahre vergangen und alles ist teurer geworden.“

Ein Mann sagt: „Stimmt genau und Schuld ist die Ostzone und der Euro. Heute ist alles das Doppelte.“

Der erste alte Mann meldet sich wieder zu Wort: „Meine Rente haben sie glatt halbiert. Wie soll man da noch rum kommen?“

Der andere alte Mann grinst: „Hehe, ich hatte Glück, ich hatte gerade eine Hypothek für meinen Sohn aufgenommen und auf einen Schlag hatten wir nur halb so viel Schulden!“

Die anderen werfen dem halbierten Schuldner bewundernde Blicke zu. Zu gerne hätten sie auch viel Geld geliehen und ihre Schuldenlast auf einen Schlag halbiert.“

„Es wird einen großen Knall geben“, macht sich jetzt eine Frau in mittleren Jahren bemerkbar. „Ja, einen großen Knall, Deutschland wird untergehen, es wird eine große Katastrophe kommen, irgendwas, Revolution, Krieg oder was weiß denn ich. Jedenfalls kann es so nicht weiter gehen, die ganzen Ausländer und so. Da kommen ja jeden Tag neue ins Land und leben hier auf unsere Kosten. Das wird unser Ende sein. Da gibt’s einen großen Knall, wir bekommen dann eine neue Währungsreform und hoffentlich wieder einen starken Mann.“

„So einen wie den Hitler?“ frage ich.

Eine ältere Dame mit Keuchhusten röchelt: „Der hat wenigstens die Währung in Ordnung gebracht und die Autobahnen gebaut und ohne dem seinen Werner Braun (sic!) wären die Amis nicht mal auf den Mond geflogen. Ganz so schlecht war der Hitler nicht. Denken’se mal an den Volkswagen!“

„Und das mit den Juden?“ fragt ein jüngerer Mann „Acht Millionen sind da umgebracht worden.“

„Ja, das mit den Juden hätte er bleiben lassen sollen, aber davon hat ja niemand was gewußt. Mein Vater hat einem Juden sogar eine Jacke geschenkt“, brüstet sich einer der alten Männer. „Und wenn der das mit Stalingrad nicht gemacht hätte, wäre der heute noch dran, der Hitler.“

„Der wär‘ doch über hundert Jahre alt“, protestiert der jüngere Mann.“

„In Euro sogar über 200“, korrigiere ich und jeder nickt zustimmend.

„Ja, das stimmt“, sagt einer der Alten: „Aber so ganz schlecht war der nicht, der Hitler, da herrschte wenigstens noch Zucht und Ordnung.“

„Aber die acht Millionen Juden!“ ruft der Jüngere.

Ich sage: „Das ist wie mit dem Euro, das waren vorher auch mal doppelt so viel.“

Alle nicken und keiner hat’s verstanden.

Geschichten

Der erfolgreiche Buchautor Peter Wilhelm veröffentlicht hier Geschichten, Kurzgeschichten, Gedanken und Aufschreibenswertes.

Lesezeit ca.: 7 Minuten | Tippfehler melden | © Revision: | Peter Wilhelm 27. Juni 2013

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