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Boah ey, voll die Seuche!

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Eben sitze ich an meinem Rechner und versuche kreativ zu sein, da tönt von der Straße grauenvolles Getöse zu mir herauf.

Der örtliche Männergesangsverein baute sich in unserer Straße auf. Alles alte Männer, ganz alte Männer… Das Getöse wurde von einem guten Dutzend leerer Bierkästen verursacht, die die kleineren Männer in der zweiten Reihe als Podest aufbauten, damit sie über die größeren Männer in der ersten Reihe hinwegschauen können.
Nun sind die Leute hier allesamt nicht besonders groß gewachsen, was meiner Vermutung nach auf die innigen verwandtschaftlichen Beziehungen ihrer Eltern zurückzuführen ist, und so kann man sich vorstellen wie klein da die Kleinen waren.


Jetzt ist es aber selbst in meinem kleinen „gallischen Dorf“ nicht üblich, dass der Gesangsverein sich morgens auf der Straße versammelt. Was war also passiert? Nix! Bloß Herr Maultasch von nebenan hat Geburtstag und offenbar ist sein Geburtstag ebenso rund, wie er selbst.

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Jedenfalls bezog er auf seinem Balkon Stellung, strahlte über das ganze Gesicht und rief immer wieder über die Schulter in sein Wohnzimmer hinein: „Gretel, kumm doch, die singe glei!“

Aber Gretel kam nicht, Gretel versuchte nämlich die familieneigene Videokamera in Gang zu setzen, fand aber wohl den Akku nicht, denn man hörte sie mehrmals rufen: „Ei, Schorsch, wo is dann des schwatze Kästel?“

„Wass’n für’n schwatzes Kästel?“

„Des wo do der Strom rauskummt.“

„Määnsch du, der Aggu?“

„Hajooo, den mään isch.“

„Im Kihlschrank, do bleibter frisch!“

Mehrmals hob der Gesangsverein zwischenzeitlich an zu singen, doch Herr Maultasch war auf einmal vom Balkon verschwunden, um seiner Gretel „dem Aggu aussem Kihlschrank“ zu holen.
Einer der Sänger war von der Bierkiste gepurzelt und die anderen rätselten noch, ob der Sturz unter dem Einfluss von Restalkohol oder infolge eines Schlaganfalls geschehen sei. Der rote Kopf des Gestürzten ließ auf Letzteres schließen, aber als ihm jemand die Jacke aufknöpfte, erholte sich der Sangesbruder recht schnell wieder. Ich meine ja sowieso, dass die mit den Jahren fett gewordenen Sänger in ihren, vor zwanzig Jahren angeschafften einheitlichen, Vereinsjacken aussehen wie Presswürste. Genauergesagt wie Paprikapresswürste, denn die Jacken sind rot.

Aus der Maultaschwohnung höre ich Gretel mit ihrem Schorsch zetern: „Dann nimm halt den Hammer, um das Eis vumm Aggu zu kloppe!“

„Isch krieg den ja net ämohl aussem Kihlschrank, der ist festgefroren!“, ruft er.

Man entschließt sich im Hause Maultasch, auf eine bleibende Erinnerung in Form einer Videoaufzeichnung zu verzichten und die Huldigungen des Vereins nunmehr entgegenzunehmen.

Das Ehepaar Maultasch baut sich ordentlich auf dem Balkon auf, so wie es sich für die Eingeborenen hier gehört: Der dicke Maultasch vorne und seine kleine Frau hinter ihm. Die hat sich ein Kopftuch umgebunden, es ist ihr wohl doch etwas zu kühl. Der hinter Zipfel vom Kopftuch wippt immer auf und ab, während Frau Maultasch immer hochhüpft, um auch etwas vom Gesangsverein zu sehen.
Denn momentan kann man die Sänger nur sehen, zu hören gibt es noch nichts, man ist noch damit beschäftigt, den Heruntergepurzelten Sangeszwerg wieder auf seine Bierkiste zu stellen.

Das gibt Herrn Maultasch die Zeit, seiner Frau zuzuraunen: „Geh‘ setz schunn ämohl Wasser uff!“
Frau Maultasch verschwindet und ich höre, wie Maultasch seinen Sangesfreunden unten auf der Straße zuruft: „Isch loss grad Wasser mache, gleisch gibts Kaffee!“

Die Männer unten freuen sich und von den Zwölfen ruft ungefähr ein Dutzend: „Schnaps!“

Maultasch macht eine beruhigende Handbewegung, die wohl signalisieren soll, dass er selbstverständlich auch eine Flasche Schnaps bereithält. Unterdessen hat Frau Maultasch kochendes Wasser erzeugt und will ihren Mann nun fragen, was er damit will.
Er sieht, dass unten immer noch nicht gesungen wird, weil die Standfestigkeit des Gepurzelten immer noch nicht hundertprozentig wiederhergestellt ist. Aus diesem Grunde erkundigt er sich bei seiner Frau noch einmal nach dem festgefrorenen Akku: „Was issem mittem Aggu?“

In der Folge kommt es zu einem ebenso typischen, wie folgenschweren Mißverständnis. Hatte er seine Frau zwar gebeten, kochendes Wasser zu machen, wollte er aber eigentlich, dass diese später daraus Kaffee für seine Sangesbrüder brüht. Sie hingegen verbindet nun die Frage nach dem in einen Eisblock eingefrorenen Akku der Videokamera und das Aufsetzen des Kaffeewassers in unglückseliger Weise miteinander und geht in die Küche. Dort nimmt sie den Topf mit dem kochenden Wasser und kippt ihn in das Gefrierfach ihres Kühlschranks um den Akku aufzutauen.

Die nun folgenden Ereignisse überschlagen sich: Das kochende Wasser, es muss sehr viel gewesen sein, zischt in das zugeeiste Gefrierfach und löst eine Kettenreaktion aus. Zwar löst sich der festgefrorene Akku quasi in Schallgeschwindigkeit, aber ebenso schnell zerbirst der Boden des Gefrierfaches und das kochende Wasser ergießt sich auf den gesamten Inhalt des Kühlschrankes. Aufgrund physikalischer Gesetze (ich sage nur Temperaturunterschied) platzen die Wein- und Schnapsflaschen der Maultaschs und ein mittelalter Schimmelkäse, sowie Herr Maultaschs Geburtstagstorte lösen sich in ihre Bestandteile auf. In diesem Tun tut es ihm die untere Glasplatte im Kühlschrank gleich und ein großer Topf mit gut gekühlter Rindfleischsuppe landet auf dem Küchenboden des Hauses Maultasch.
Das alles geht natürlich nicht ohne die dementsprechende Geräuschentwicklung vonstatten, einerseits verursacht durch die nun nicht mehr an der Trägheit der Masse leidenden und dementsprechend herunterfallenden und berstenden Gegenstände und andererseits durch das ohrenbetäubende Geschrei von Frau Maultasch.
Das wiederum ruft Herrn Maultasch auf den Plan, der blitzartig, soweit das seine kurzen, dicken Beine erlauben, in der Wohnung verschwindet.

Zwar wäre der Gesangsverein jetzt soweit, kann aber mit seiner Gesangsdarbietung nicht anfangen, da die Maultaschs vom Balkon verschwunden sind und man durch die geöffnete Balkontür nur noch lautes, aber unverständliches Geschrei der beiden Rentner hört.

Alles in allem kommt es zu einer gut halbstündigen Verzögerung, bevor die Maultaschs total entnervt wieder auf dem Balkon erscheinen. Offenbar will Maultasch die Vorführung absagen und hebt die Hand. Das verstehen die Sangesbrüder als Startzeichen und singen endlich ihr Lied.

Es ist das „Badner Lied“.

Das ist ein Lied, das hier in der Gegend immer gesungen wird, wenn was gesungen werden soll. Kein Lied in dem die schöne Landschaft besungen wird, sondern in dem man Fabriken und eine Bierbrauerei besingt. Schön!

Die Männer singen auch sehr schön, etwas langsam vielleicht, aber insgesamt recht schön.
Doch die Maultaschs können dem Ganzen nicht so recht Gefallen abgewinnen, zu sehr sind sie im Kopfe mit den küchentechnischen Problemen beschäftigt. Deshalb verschwinden sie auch sofort als das Lied zu Ende ist und hinterlassen zwölf auf Schnaps wartende Männer in viel zu engen roten Jacken auf der Straße. Diese Männer dauern mich und ich hoffe, dass ich ihnen einen Gefallen getan habe, als ich ihnen eine Handvoll Eukalyptus-Hustenbonbons zugeworfen habe.
Vielleicht waren einige nicht erkältet, anders kann ich es mir nicht erklären, dass manche von ihnen ihre Bonbons wieder zurückgeworfen haben. Man glaubt gar nicht, wie hart so Bonbons sein können!

Merke: Die Ladung von aufgeladenen Akkus bleibt tatsächlich länger erhalten, wenn man sie kühl lagert. Aber bitte nicht im Gefrierfach!

Mehr satirische Geschichten findest Du hier im Index und natürlich im aktuellen Buch des Autors Peter Wilhelm, das Du im Buchhandel oder hier bestellen kannst.


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Lesezeit ca.: 9 Minuten | Tippfehler melden | Peter Wilhelm: © 17. November 2006 | Revision: 16. September 2014

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