Geschichten

ER ist gekommen

gott

Posaunen kündeten es an, doch keiner wollte es so recht glauben. Auch nicht, als sich unglaublich dicke Wolkenhaufen in aberwitzigen und ungewöhnlichen Formationen am Himmel auftürmten. Doch als die Posaunen auch nachts nicht verstummten, wurden dann doch alle etwas unruhig.

48 Stunden lang hatten die Posaunen, von denen niemand wußte, woher sie erklangen, geblasen, dann öffneten sich endlich die Wolken und ER stieg auf die Erde herab.

In der Nähe von Memphis/Tennessee berührten seine göttlichen Füße die Erde. (Eigentlich wollte ER ja im ägyptischen Memphis niederfahren, aber das war nicht mehr da, wo es früher mal war.)

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Satellitenbilder amerikanischer und russischer Flugkörper zeigten zwar den Kontinent, nicht aber den genauen Ort.

Eilends eilte der eilige Vater vom Vatikan aus nach Amerika, um IHN standesgemäß zu begrüßen.

An Bord einer ALITALIA-Maschine bereitete sich der Papst auf das wichtigste Treffen der Menschheit vor.

Seine Berater umschwirrten ihn, wie Bienen eine Nektarblüte und einer meinte:

„Heiliger Vater, wir sollten mit Bedacht an die Sache herangehen, auch die Juden und die Moslems haben hohe Abgesandte losgeschickt und die Mormonen melden auch Ansprüche an, sogar die Orthodoxen fahren nach Amerika.“

Der Heilige Vater ging in sich und sagte: „Ich bin Petrus und auf mich hat er seine Kirche gebaut. Aber dies ist ein historischer Augenblick und wir sollten uns wirklich abstimmen.“

So kam es, daß ER bei einem farbigen Elektrogitarrenhändler namens Moses Abrahams Aufnahme fand und Kaffee schlürfte, während sich die Vertreter der großen Religionen in der großen Wandelhalle der UNO in New York trafen, um sich zu beraten.

„Wir müssen die Schofar blasen!“ rief Oberrabbiner Schlomo Weingeist aufgeregt.
„Nein, wir müssen unsere Waschungen vornehmen“, lamentierte Ahmed Dagman, der Vertreter der muslimischen Gruppen, der eilends aus Mekka nach New York gekommen war.
Der orthodoxe Pope Dimitrij Popolokov verlangte, man müsse erst ein paar Ikonen küssen und viel Weihrauch verbrennen.
„Vergesst nicht, IHM ein Schaf zu schlachten!“, rief Schlomo Weingeist, wurde aber von Ahmed Dagman übertönt, der den Wunsch des Popen, Ikonen zu benutzen, abscheulich fand.
„Man soll sich keine Bildnisse machen“, warf er ein.

Der Heilige Vater mischte sich in das Gespräch ein und versuchte die anderen zu beruhigen, doch es gelang ihm nicht. Es entbrannte ein heftiger Streit darüber, wie man IHN angemessen empfangen könnte.

Währenddessen hatte ER sich es bei Moses Abrahams gemütlich gemacht und aß die besten Donuts seit 4 Milliarden Jahren. (Die mit Vanillecreme-Füllung und Zuckerglasur.)

Der Präsident der Vereinigten Staaten war unterdessen in einen amtombombensicheren Bunker am Fuße der Rocky Mountains untergebracht worden; die CIA wollte herausgefunden haben, daß Elvis Presley wiederauferstanden sei.
Das könne nur bedeuten, dass das Ende der Welt nahe sei.

In New York hatte man derweil einen alten Hammel aufgetrieben und war darüber in Streit geraten, ob man ihm nicht eines seiner Hörner absägen könne, um daraus ein Tutehorn zu basteln. Schlomo Weingeist wollte einerseits gerne tuten, andererseits war auch er der Meinung, der Hammel müßte unversehrt sein, wenn man ihn opfere.

Die zwei Vertreter der Mormonen aus Utah waren inzwischen auch eingetroffen und beharrten darauf, IHN nach Salt Lake City zu befördern. Hiermit waren zwei Herren von den Zeugen Jehovas nicht einverstanden, die anhand ihrer Bibel belegen konnten, daß ER jetzt, zu diesem Zeitpunkt gar nicht kommen könne, es sei nämlich Dienstag und wenn ER schon käme, dann an einem Mittwoch.

Lautstark zankten sich die Vertreter der großen Religionen, nur der Papst und der Dalai Lama saßen still in einer Ecke und spielten an einem kleinen Tischchen aus Mahagoniholz Mau-Mau.
„Warum bist du so ruhig?“, fragte der Papst seinen tibetischen Freund. Dieser lächelte milde und sagte: „Ach weißt Du, ER wird schon wissen, welche der vielen Religionen ihm am angenehmsten ist. ER wird sich schon entscheiden.“
Der Papst dachte kurz über die Worte des Dalai Lama nach und nickte dann zustimmend. Insgeheim war er sich aber sicher, daß er der Auserwählte sein würde.

ER hatte inzwischen ausprobiert wie weiches, weißes Toastbrot mit Erdnussbutter, Bananenscheiben und Apfelgelee schmeckt. Moses Abrahams schwor auf dieses Sandwich schon seit Jahren und auch ER zeigte sich begeistert. Inzwischen war ER schon zwei Tage bei dem Gitarrenhändler zu Gast. Dieser hatte IHN nicht ein einziges Mal nach seinem Woher und seinem Wohin gefragt. Dafür waren im Verlaufe seines langen Lebens schon zu viele merkwürdige Typen bei ihm ein- und ausgegangen. Moses Abrahams tat das, was er immer in solchen Fällen tat: Er war gastfreundlich, ließ seine weißen Zähne blitzen und erzählte aus seinem reichhaltigen Erfahrungs- und Erlebnisschatz. Vielleicht würde ER ja später noch eine Gitarre kaufen. Deshalb beantwortete Moses Abrahams auch die zahlreichen Fragen seines ungewöhnlichen Gastes.

An anderer Stelle wurden Satellitenbilder ausgewertet und Beauftragte aller denkbaren Geheimdienste waren auf der Suche nach IHM. In Paris wollte eine Frau gesehen haben, wie ER in Form eines Blitzes in den Eiffelturm gefahren sei. Das war aber genauso unglaubwürdig wie die Behauptung von Uri Geller, ER säße auf der Kuppel der St. Pauls Cathedral in London, man könne IHN nur wegen des Nebels nicht sehen.

Die Queen ärgerte sich, weil sie als Oberhaupt der anglikanischen Kirche nicht am Treffen in New York teilnehmen konnte, aber sie badete seit Tagen bereits ihre von Hühneraugen geplagten Füße und schmollte, weil sie in New York offenbar niemand vermisste.

Ein übereifriger Hilfsrabbiner hatte inzwischen dem Hammel ein Horn abgebrochen und so den Zorn von Schlomo Weingeist und Ahmed Dagman auf sich gezogen. Weingeist hatte das krumme Horn an sich gebracht und drosch damit auf den Hilfsrabbiner ein, während der Muslim ihn festhielt.
Dabei rief Ahmed Dagman immer: „Auf die nackten Fußsohlen! Immer auf die nackten Fußsohlen!“

Die Kunde, daß ER gekommen sei, hatte mittlerweile weltweit die Runde gemacht und CNN berichtete pausenlos live von allen möglichen Schauplätzen. Überall standen Kamerateams und filmten hilf- und ratlose Reporter die sich den Mund fusselig redeten.
Die Mitglieder einer amerikanischen Sekte, die ihr Hauptquartier in der Wüste bei Las Vegas hatte, begannen damit, sich ihre Köpfe zu rasieren und ihre Körper mit lila Leuchtfarbe einzupinseln. Nur so, da waren sie sich sicher, könne man gerettet werden.

Vereinzelt war es in den größeren Städten schon zu Plünderungen gekommen und die Menschen tätigten Hamsterkäufe, schließlich hieß es doch überall, das Ende sei nahe. Die Selbstmordrate war enorm angestiegen, viele wollten der drohenden Abrechnung auf diese Weise entkommen.

Ahmed Dagman und Schlomo Weingeist gerieten unterdessen wieder in einen heftigen Streit. Der Muslim hatte gefordert, daß er und einzig und allein er derjenige sein dürfe, der IHN begrüßt. Außerdem verlangte er, daß ER keinesfalls von seinem Sohn begleitet werden dürfe und vor allem forderte Dagman, daß jegliches Vorzeigen oder Mitführen von Kruzifixen zu unterbleiben habe.

Hierüber solle man sofort einen Vertrag aufsetzen, forderte der Muslim.

„Das ist doch Blödsinn“, schimpfte der Papst, „Erstens steht es uns nicht zu IHM etwas vorzuschreiben und zweitens ist wohl kaum damit zu rechnen, daß SEIN Sohn nach 2000 Jahren immer noch sein Kreuz mit sich herumschleppt.“

„Das habt ihr ja auch in tausenden von klitzekleinen Holzsplittern zu Reliquien verarbeitet!“ zürnte Schlomo Weingeist in Richtung des Papstes.

Ahmed Dagman beharrte darauf, daß auch ER sich genau an das halten müsse, was geschrieben stehe und Schlomo Weingeist stimmte dem Muslim erstaunlicherweise zu, wollte aber nun seinerseits selbst die Spielregeln festlegen, denen ER sich zu unterwerfen habe.

Der Dalai Lama hatte inzwischen einen Bogen Papier besorgt und gemeinsam mit dem Papst bereitete er ein Dokument vor, das das gemeinsame Vorgehen festlegen sollte. Etwas abseits in der Ecke stand der orthodoxe Pope und verbrannte heimlich etwas Weihrauch. Natürlich blieb sein Tun nicht unbemerkt und er fuhr sich eine heftige Rüge der Übrigen ein. Schlomo Weingeist rief: „Das nenne ich mal hinterlistig! Kaum fühlt er sich unbeobachtet, will er sich einen Vorteil verschaffen.“ Dabei hielt er das abgebrochene Hammelhorn unter seinem langen schwarzen Mantel verborgen und hatte insgeheim beschlossen, nachher ein wenig darauf zu tuten.

Mitten in die Versammlung platzte ein hoher Mitarbeiter der amerikanischen Regierung und teilte den Anwesenden mit, man habe herausgefunden wo ER sich ganz genau befinde.

In großer Eile machten sich alle Anwesenden mitsamt ihrem Gefolge auf den Weg nach Memphis im Staate Tennessee. Wenige Stunden später standen sie vor dem Gitarrenladen von Moses Abrahams.

Den Dalai Lama hatte man nach langen Grabenkämpfen für würdig und neutral genug befunden, IHN zu begrüßen. Noch einmal zupfte der Dalai Lama sein Gewand zurecht, dann betrat der den Laden von Moses Abrahams, der gerade dabei war, eine Stratocaster-Gitarre zu stimmen.

Wenig später traten der milde lächelnde Dalai Lama und Moses Abrahams vor den kleinen Gitarrenladen am Ende des Presley-Boulevards in Memphis/Tennessee. Die Kameras surrten und klickten, mindestens 400 Reporter und Kameraleute aus aller Welt waren inzwischen angekommen.

Live und in Farbe wurde in alle Welt übertragen, was der Dalai Lama zu berichten hatte: „ER ist schon wieder weg!“

Ob des ganzen Rummels etwas verschüchtert trat nun Moses Abrahams an die Mikrophone. Die Stimmen der Reporter überschlugen sich, alle wollten alles ganz genau wissen. Moses Abrahams hüstelte verlegen und sagte dann: „ER hat eine Gitarre gekauft!“

© 2006

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    Der erfolgreiche Buchautor Peter Wilhelm veröffentlicht hier Geschichten, Kurzgeschichten, Gedanken und Aufschreibenswertes.

    Lesezeit ca.: 11 Minuten | Tippfehler melden | Peter Wilhelm: © 13. November 2015 | Revision: 16. November 2015

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