Spitze Feder

Der Chor der Befangenen

chor

Keine Bange, ich möchte niemandem die Entscheidung abringen, ob nun Beethovens Chor der Gefangenen, dem Pendant Verdis vorzuziehen ist.

Denn über Geschmack lässt sich ja bekanntlich streiten, und zudem sind Nabucco und Fidelio zwei komplett unterschiedliche Schöpfungen. Selbst für gehobene Klassik-Puristen, die sich beide Werke nur auf exklusiv ausgewählten Vinyl-Erstpressungen anhören und hierzu ihren Transrotor Artus eigens mit unterschiedlichen SME-Tonarmen und Moving-Coil-Systemen von Audio Technica bestückt haben. Am Ende eskalierte der akademische Gedankenaustausch darüber, ob nun Daniel Barenboim, Sir Simon Rattle oder eher Herbert von Karajan, den feinen Nuancierungen beider Epen, in ihrem ikonischen Dirigat gerecht wurden, vielleicht noch in einer erbitterten Grundsatzdiskussion. Und das nützte ja wirklich niemandem, oder?

Dieser Beitrag hat mit klassischer Musik ohnehin nichts am Hut. Der Headliner ist nur mal wieder ein Eyecatcher, nach dem Motto: „Davon habe ich doch schon mal gehört, mal schauen, worum es geht“. Wobei die Intention, die mich zum Schreiben dieser Zeilen veranlasst hat, wiederum auf dem dünkelhaften Verhalten unseres politischen Personals beruht, dessen Auftreten mich zunehmend an jene dunkle, klassische Zeiten erinnert, in denen die Herrschenden solche Kompositionen in Auftrag gaben und diesen bei feinen Speisen und erlesenen Weinen ergriffen lauschten, derweil sie nach Gutdünken über Wohl und Wehe ihrer Untertanen zu entscheiden pflegten.

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Mit dem Unterschied, dass in unserer sakrosankten, parlamentarischen Demokratie, die wahren Herrschenden keine Adelstitel mehr tragen, sondern Familiennamen, wie Reimann, Albrecht, Kühne, Schwarz, Quandt, …und deren Verweser, Bezeichnungen wie CEO, Vorstandsvorsitzender, Aufsichtsrat, Beirat, Verwaltungsrat, Arbeitgeberpräsident und, und, und. Selbstredend mit den unverzichtbaren Appendices „männlich“, „weiblich“ und „divers“, um seitens der ubiquitären, woken Gesinnungspolizei keine Hysterie zu provozieren.

Unterhalb der Ebene dieser Verweser rangieren dann jene Unter-Verweser, die nach den Etiketten der parlamentarischen Demokratie zu guter Letzt das Land verwesen. Geiles Wortspiel, oder? Die klangliche Nähe zu „Verwesung“ und die Assoziation zu deren Geruch, mag zwar merkwürdig koinzident erscheinen, sie ergibt jedoch durchaus Sinn. Verdeutlicht sie doch das Unwohlsein jener, die von den Unter-Verweser regiert und mit Entscheidungen und Behauptungen konfrontiert werden, die dem gesunden Menschenverstand zuweilen diametral …oder wie das heißt.

Längst ist die unredliche Doppelzüngigkeit, mit der die Unter-Verweser versuchen, ihre Entscheidungen und Behauptungen gegenüber der Bevölkerung zu legitimieren, und anhand derer man den impertinenten Output zumindest noch einer politischen Partei, einer Farbe, oder einer Richtung zuordnen konnte, einer willkürlichen Trichoptilosis gewichen, deren Dreistigkeiten, den Bürgerinnen und Bürgern in medialer Endlosschleife in die Köpfe gehämmert wird. Zu Risiken und Nebenwirkungen einer chronischen Trichoptilosis, fragen sie Ihren Wahlkreisabgeordneten (m, w, d), oder ihren Coiffeur.

Um nun endlich zu der Sangeskunst aus der Überschrift zu kommen:

Mit Ausnahme der Ewiggestrigen, Träumerinnen und Träumern aus dem linken Lager, die im 21. Jahrhundert noch immer von Gleichheit, Frieden, Freiheit, Brüderlichkeit und dem ganzen anderen sozialromantischen Kitsch fabulieren, sind die Choräle, die man bei den meisten Debatten hört, unisono einfallslos bis arrogant.

Unabhängig von den Themen hört man stets den gleichen monotonen Singsang. Von der Alternativlosigkeit der Entscheidungen, dem Gift der Steuern, von den Märkten, die alles richten, und vom Staat, der höchstens als Moderator zu fungieren habe, aber nicht als Bremser der Wirtschaft. Vom freien und fairen Welthandel. Von der sozialen Marktwirtschaft. Von Innovation, Transformation und Inklusion. Von der Geschlechtergerechtigkeit, der Digitalisierung …und last but not least, von unserem demokratischen, wertebasierten Handeln, neuerdings auch mit feministischer Außenpolitik.

Und wehe, die Zuhörer (m, w, d) dieser wirren Aufführung, beginnen sich einfach nur mal zu fragen, welcher von den über 200 Kriegen, die zurzeit auf dem Planeten wüten, mit unserem wertebasierten Handeln in Einklang steht, oder wer das letztlich bestimmt. Oder, ob die Toten in der Ukraine, im Jemen, in Syrien, im Gaza-Streifen, oder ob nicht alle Kriegstoten, gleichermaßen tot sind. Oder, ob man die Werte, mit denen die Toten offensichtlich doch unterschieden werden, nicht einmal grundsätzlich auf ihre Sinnhaftigkeit hin überprüfen sollte. Dem wird sofort die transatlantische Partitur über den ungehorsamen Schädel gezogen.

Denn die Unter-Verweser haben sich alle bequem in ihren Refugien eingerichtet, die sie wiederum von den wahren Herrschenden generös zugewiesen bekamen, um einzig deren Interessen in dieser wertebasierten, parlamentarischen Demokratie zu vertreten. Die Unter-Verweser dulden deshalb keine störenden Fragen der Untertanen, die sie verwesen. Denn sie erhalten üppige Apanagen (vulgo: Diäten), sie können sich alle auf einen geruhsamen Lebensabend in Wohlstand verlassen, in dem sie ihre Memoiren schreiben, oder schreiben lassen, und in dem sie als Elder-Statesmen, oder Elder-Stateswomen gern gesehene Gäste bei Diskussionsrunden, Foren und Galen aller Art sind. Kurzum: Sie sind in ihrer aktiven Zeit vom Wohl und Wehe der Herrschenden vollkommen abhängig, wie der Hund von seinem Herrchen, und deshalb singen sie alle die immer gleichen Lieder im Chor der Befangenen.

Nachtrag:

Und sollte doch jemand die Unverfrorenheit wagen, den Chorgesang der Befangenen mit Tönen zu irritieren, die im wertebasierten Kontext des Handbuchs für treue Untertanen explizit nicht verzeichnet sind, wird ihm sofort die transatlantische Partitur auf die ungehorsame Glocke gedonnert.

Wie zuletzt Rolf Mützenich, seines Zeichens Vorsitzender der Bundestagsfraktion einer vormaligen Friedenspartei namens SPD, der mit einer völlig abwegigen Idee von sich reden machte, man könnte doch eventuell, unter Umständen, also vielleicht, irgendwie, also zumindest mal darüber nachdenken, den wertebasierten Krieg in der Ukraine einzufrieren.

Bildquellen:
  • chor: Peter Wilhelm ki


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Diese Kolumne schreibt vorwiegend Peter Grohmüller seine Gedanken zur Welt und dem Geschehen unserer Zeit auf.
Seine fein geschliffenen „Ergüsse“ – wie er selbst sie nennt – erfreuen sich großer Beliebtheit.

Hin und wieder erscheinen in dieser Kolumne auch Beiträge anderer Autoren, die dann jeweils entsprechend genannt werden.

Die Texte sind Satire, Kommentare und Kolumnen. Es handelt sich um persönliche, freie Meinungsäußerung.

Für die Texte ist der jeweilige Autor verantwortlich.

Lesezeit ca.: 6 Minuten | Tippfehler melden | Peter Grohmüller: © 28. März 2024

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