Spitze Feder

Verrückt

Verrückt

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Verrückt ist eine facettenreiche Vokabel. Es ist beispielsweise ziemlich verrückt, in wie vielen unterschiedlichen Zusammenhängen sie eingesetzt wird. Und trotzdem hat jeder seine eigene Meinung darüber, was verrückt ist. Das beginnt mit Synonymen wie: Nicht bei klarem Verstand, wahlweise auch nicht bei Trost sein, ein Rad ab-, nicht alle Tassen im Schrank, oder Latten am Zaun haben. Kurzum: Immer wenn etwas über das gerade noch hinnehmbare Maß von normal abweicht, kommt das Wort verrückt ins Spiel. Aber verrückt muss ja nicht per se etwas Negatives sein.

Es ist zum Beispiel verrückt, in welch aberwitzig kurzer Zeit Usain Bolt 100 Meter weit sprintet. Gerade mal 9:58 Sekunden braucht der Jamaikaner aus den Startblöcken bis ins Ziel. Das entspricht einer Geschwindigkeit von knapp 36 km/h und mag zwar im Vergleich zu einem Gebhard, der bei der Hatz auf eine leckere Gazelle bis zum Dreifachen an Karacho hinlegt, gering erscheinen, aber für einen Vertreter der Gattung Homo Sapiens bedeuten die 36 km/h Weltrekord.

Ebenso verrückt ist, dass der Franzose Stephane Mifsud bei seinem schrägen Hobby, dem Apnoe-Tauchen, unfassbare 11:35 Minuten die Luft anhalten kann. Mag ja sein, dass ein Pottwal mal eben eine dreiviertel Stunde taucht, wenn er in Sachen leckere Riesen-Kalmare unterwegs ist. Aber für einen Vertreter der Gattung Homo sind Stephane Mifsuds 11:35 Minuten ohne Luft zu holen, ebenfalls Weltrekord.

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Diese Leistungen mögen zwar verrückt klingen. Niemand würde jedoch auf die Idee kommen, sie mit fehlenden Tassen oder Latten gleichzusetzen. Hier steht die Vokabel verrückt im Sinne von faszinierend…fei nach Mr. Spock.

Aber jetzt kommt´ s: Auf einem fiktiven Zukunftsforschungs-Symposiums-Dingsbums tritt ein smarter Redner mit Jeanos zum offenen Sakko, stylischem Vollbart und Tablet ans Pult, verkündet die Zukunft des Automobils und zählt die Komponenten auf, die seines Erachtens darin keinen Platz mehr haben werden: Air-Bag, Sicherheitsgurte, sinnloser High-Tech-Tinnef wie ABS, ASR, Abstandsradar, Spurhalteassistent oder adaptives Kurvenlicht, Sicherheitsfahrgastzelle, eben das ganze Brimbamborium, mit dem die Hersteller heutzutage herumprahlen, wenn es darum geht, den potentiellen Kunden die Taler im Portemonnaie zu lockern.

Hier kann man definitiv von verrückt sprechen, im Sinne von nicht mehr bei klarem Verstand, nicht bei Trost, Rad ab, nicht alle Tassen im Schrank, oder Latten am Zaun. Schließlich kann jeder, der im Physikunterricht Newtons Implikationen nur absatzweise verstanden hat, sich vorstellen, wie das mit 1,5 Tonnen Masse bei 150 km/h ist, wenn diese nach der Formel ½ mv² urplötzlich zum Stehen kommt, sprich: Wenn das heilig Blechle gegen ein anderes heiligs Blechle oder jedwedes andere Hindernis kracht. Da sind solche Gimmicks wie Air-Bags und Sicherheitsgurte durchaus nützlich.

Ergo würde man besagten Redner auf dem fiktiven Zukunftsforschungs-Symposiums-Dingsbums samt Jeanos, offenem Sakko, stylischem Vollbart und Tablet von der Bühne zerren, ihn humorlosen Hünen im weißen Mediziner-Dress überantworten, die ihn sogleich, sicher vertäut in eine schmucke Langarm-Jacke, mitnähmen und an Herrn Prof. Dr. Oberarzt in eine psychiatrische Fachklinik weiterreichten.

Man kann natürlich trefflich darüber streiten, ob, und wie geil es ist, mit einem 3 Tonnen schweren 500 PS SUV-Boliden zu ALNATURA zu brettern und dort Bio-Flugananas aus Costa Rica für Einsfuffzich zu kaufen. Aber eines ist sicher: Die 3 Tonnen schwere 200.000 € Trutzburg aus dem Epizentrum der Kehrwochen-Ingenieurskunst kommt bei einem unsachgemäßem Stop mit Newtons ½ mv² deutlich besser zurecht, und für den darin fahrenden Bio-Flug-Ananas-Liebhaber wesentlich gefahrloser, als eine Schüssel aus Adenauers Brezel-Käfer-Ära.

Jetzt kommt´ s knüppeldick und verrückt zugleich: Sicher kann sich jeder noch an die sognannte Finanzkrise vor knapp 10 Jahren erinnern, als die US-Zockerbude Lehman Brothers Holdings Inc. pleite ging. Die Auswirkungen dieses Malheurs rasten damals wie ein Tsunami um den Globus und fegten auch hierzulande einige Geldhäuser in den Ruin. Ich sage nur HSH-Nordbank, WestLB, BayernLB, Commerzbank…

Grund für diese globale Seuche waren völlig hirnrissige Bündelungen von Hypotheken-Krediten aus den USA mit deren Ausfallversicherungen und weiß der Geier welch weiteren sinnlosen Derivate-Dreck zu sogenannten „Anlageprodukten“. Durch den Verkauf dieses strukturierten Giftmülls strichen die Dealer (vulgo: Investmentbanker) obszöne Boni ein, obwohl (oder weil?) sie am Ende selbst nicht mehr durchblickten, was sie da eigentlich „kreiert“ hatten.

Und die Damen und Herren Politrentner, die nach ihrer Parlamentarischen Karriere bei eben jenen Buden wie HSH-Nordbank, WestLB, BayernLB, etc. in die Aufsichtsräte entsorgt wurden, hatten natürlich Nullkommanull Ahnung, welch windige Deals ihre geldgeilen Vorstände mit den Gangstern der Wallstreet eingingen. Am Ende hat diese maßlose Gier die Europäischen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler schlappe 3.000 Milliarden € gekostet. wie man heute weiß.

Das total verrückte an der Geschichte ist, dass man dies hätte verhindern können, wenn man es hätte verhindern wollen! Das volkswirtschaftliche Äquivalent zu Air-Bag, Sicherheitsgurt, ABS, ASR, Abstandsradar, Spurhalteassistent, adaptives Kurvenlicht, Sicherheitsfahrgastzelle, etc. sind die von den Marktradikalen in der Finanzwirtschaft verhassten Regulierungen. Will meinen: Sicherheitsregeln, Bestimmungen und vor allen Dingen Verbote von hochriskanten Deals, um exakt solche, sich explosionsartig ausbreitende Flächenbrände zu verhindern. Ich sage nur Firewall.

Dumm nur, dass diese Firewall von einem gewissen Hans Eichel geschleift wurde, als er sich anno 1999 anmaßte, den Bundefinanzminister darstellen zu wollen. Konnte ja wirklich nicht angehen, dass die smarten Jungs der Investmentbanken in Übersee Millionen einsackten, während hierzulande hinter den Schaltern bei den Volksbanken und Sparkassen gähnend langweilige Kleinkredite an Manta-Fahrer und Häuslebauer vergeben wurden. Die Damen und Herrn Banker in Deutschland, unter ihnen ein gewisser Carsten Maschmeyer, Kumpel von Eichels Boss, dem Schröder Gerd, wollten bei den globale Deals auch mitmischen, fett Kohle absahnen und ab und zu mit Brasilianischen Nutten die Champagner-Korken knallen lassen.

Ergo hat der Eichel Hans, als ehemaligen Realschullehrer und Oberbürgermeister von Kassel, ohne den völlig sinnlosen Umweg über eine entsprechende Ausbildung, zum erlesenen Finanzexperten mutiert, mal eben alle Sicherheitssysteme eingerissen und der Hedge-Fond- und Investment-Banker-Brut das Stadttor sperrangelweit geöffnet. Der Rest ist sattsam bekannt, viele Europäische Staaten sind genau genommen pleite. Hätten 1999 besagte humorlose Hünen im weißen Mediziner-Dress den Eichel Hans aus dem Reichstag gezerrt, ihn in jene Langarm-Jacke sicher vertäut und zu Herrn Prof. Dr. Oberarzt ins Ludwig-Noll-Krankenhaus in seiner schönen Heimatstadt Kassel verfrachtet…Dummerweise war es aber nicht so. Ganz schön verrückt, wenn man darüber nachdenkt, oder?

Aber heute sind wir ja 20 Jahre weiter und 20 Jahre klüger. Sollte man meinen…

Denn zwei Vertreter jener Branche, die die ganze Welt an den finanziellen Abgrund gerissen haben, werden hierzulande hofiert, wie Popstars: Zum einen der alerte Friedrich Merz, Aufsichtsratschef des deutschen Ablegers von BlackRock, den mache gerne im Bundeskanzleramt sähen, und, noch nicht so bekannt wie Merz, aber ebenso brandgefährlich, der Finanzstaatssekretär Jörg Kukies, ein Trojanisches Pferd von Goldman Sachs, der brutalsten Investment-Bank auf dem Globus. Dieser Jörg Kukies arbeitet mit Vehemenz daran, die Deutsche Bank und die Commerzbank zu fusionieren, damit es in der Bundesrepublik Deutschland „wieder eine schlagkräftige, global operierende Großbank“…bla, bla, Rhabarber.

Nur zur Erinnerung: Die Firewall, die der Eichel Hans 1999, geblendet von profunder Ahnungslosigkeit, eingerissen hat, ist selbst nach der weltweiten Seuche, ausgelöst durch genau jene Zocker, die wieder in den dicksten aller anzunehmenden Hosen durch die Gegend stolzieren, nicht wieder hochgezogen worden. Und genau die Hasardeure, die auf der Welt noch immer ihre monetären Massenvernichtungswaffen einsetzen, werden von den Medien 2019 zu Experten hochgejazzt. Verrückt, oder?

Die gleichen Medien sind übrigens voll von sich überschlagenden Horrormeldungen über ein unfassbares Insektensterben. Ein Verursacher, wenn nicht DER Verursacher ist ausgemacht: Die industrielle Landwirtschaft, die, ohne Sinn und Verstand, alles, was die Agrochemie an Leckereien kreiert, auf die Felder pumpt und Käfer, Bienen, Falter…sprich: Dem ganzen Ungeziefer quasi in einem Abwasch den Garaus macht.

Zuständig für diese Katastrophe und in der Position, dieser sofort Einhalt zu gebieten, ist qua Amt die Bundeslandwirtschaftsministerin, die liebliche Christdemokratin Julia Klöckner. Aber anstatt jetzt radikal die Chemischen Keulen zu verbieten und in Gottes schöner Schöpfung zu retten, was noch zu retten ist, hat Julia gerade wieder 18 neue Pflanzenschutzmittel zugelassen…zum Wohle der Agrarindustrie. Verrückt, oder?

Und wenn jemand angesichts dieser unfassbaren Anhäufung von fehlenden Latten und Tassen öffentlich anregt, mal zu überlegen, ab nicht vielleicht das ganze System als solches verrückt ist, wird er entweder als Anhänger kruder Verschwörungstheorien diskreditiert, oder gleich als verrückt abgestempelt. Verrückt, oder?


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Spitze Feder – Spitze Zunge

Diese Kolumne schreibt vorwiegend Peter Grohmüller seine Gedanken zur Welt und dem Geschehen unserer Zeit auf.
Seine fein geschliffenen „Ergüsse“ – wie er selbst sie nennt – erfreuen sich großer Beliebtheit.

Hin und wieder erscheinen in dieser Kolumne auch Beiträge anderer Autoren, die dann jeweils entsprechend genannt werden.

Die Texte sind Satire, Kommentare und Kolumnen. Es handelt sich um persönliche, freie Meinungsäußerung.

Für die Texte ist der jeweilige Autor verantwortlich.

Lesezeit ca.: 10 Minuten | Tippfehler melden | Peter Grohmüller: © 23. April 2019 | Revision: 17. September 2020

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