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Dankbarkeit statt Wortbruch: Holt die Ortskräfte nach Deutschland!

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Flüchtlinge aus Afghanistan – Sollen wir sie aufnehmen? Zu diesem Thema wird ganz viel Unsinn erzählt und ich versuche, Dir einmal meinen Standpunkt klarzumachen.

Wenn wir von Flüchtlingen sprechen, die nach Deutschland kommen, meinen wir normalerweise zwei Gruppen von Menschen. Das sind einmal diejenigen, in deren Land eine Situation vorliegt, die diese Menschen um ihr Leben fürchten lässt. Das ist beispielsweise bei Krieg, Bürgerkriegen, Verfolgung religiöser Minderheiten usw. der Fall. Unsere Regierung legt fest, für welche Länder, Gebiete und Gruppen das gilt, und solche Menschen dürfen dann, wenn ich das richtig verstehe, hier bei uns auf Asyl hoffen, um dem Tod und der Verfolgung zu entgehen.

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Die zweite Gruppe ist die derjenigen, die sich aus wirtschaftlicher Not oder in der Hoffnung auf ein besseres Leben auf den Weg machen und beispielsweise über das Mittelmeer oder andere Routen zu uns kommen. Auch diesen Menschen kann eine gewisse Notlage im Heimatland nicht in allen Fällen abgesprochen werden; Hunger und Perspektivlosigkeit sind hier zwei Stichworte.

Ich möchte überhaupt nicht darüber urteilen oder eine Diskussion darüber entfachen, ob und unter welchen Umständen, Angehörige beider Gruppen bei uns bleiben dürfen sollten oder wieder in ihre Herkunftsländer zurückgeschickt werden müssten. Nicht, dass ich keine Meinung dazu hätte, aber um dieses Thema geht es mir hier gar nicht.

Vergessen wird nämlich in der gesamten Diskussion die Gruppe der Menschen, die z.B. in Afghanistan für westliche Nationen, Armeen und Organisationen tätig waren. Um das besser verstehen zu können, sei mir ein erzählerischer Ausflug in unsere eigene Geschichte erlaubt.

In meinem vielbeachteten Roman „Mori – Der Teufel von Waibstadt“ geht es um die Zeit kurz vor der deutschen Kapitulation am Ende des Zweiten Weltkriegs. Die alliierten Truppen, allen voran die Amerikaner, erobern von Westen kommend Stück für Stück deutschen Boden. Dort, wo sie Städte und ganze Regionen übernehmen, installieren sie sofort eine militärische Verwaltung. Trotz des Sieges muss es ja für die besiegte Bevölkerung irgendwie weitergehen. Nahrung, Brennstoffe, Kleidung und medizinische Versorgung müssen sichergestellt und organisiert werden.

In dieser Situation wird Helga, eine 27-jährige Frau aus dem hiesigen Edingen von der amerikanischen Militärverwaltung in Heidelberg als Dolmetscherin und Schreibkraft verpflichtet.
Für die junge Frau und ihre Familie ist das ein Segen. Helga hatte kurz vor dem Krieg geheiratet, doch ihr Mann ist schon 1941 an der Front gefallen. So blieb sie mit der Verantwortung für ein Neugeborenes, zwei alte Eltern und zwei noch ältere Großeltern allein.
Als Local National, also zivile Ortskraft, bekommt Helga eine finanzielle Entschädigung, die kaum etwas wert ist, aber was viel wichtiger ist: Sie bekommt zusätzliche Lebensmittelrationen. Außerdem bekommt sie aufgrund ihres Fleißes und ihres sympathischen Wesens Geschenke von den Amerikanern, beispielsweise Zigaretten, Schokolade, Nylonstrümpfe und so banale Dinge wie Dosenobst, Bohnen und Kaffee. Für die gut versorgten Amerikaner sind das Kleinigkeiten, für Helga sind das wertvolle Tauschgüter, die sie in die Lage versetzen, nicht nur die engere Familie, sondern fast alle Verwandten und Bekannten mitzuversorgen.

Was bedeutet das in diesen Tagen für eine Frau wie Helga? Unter der hungernden und notleidenden Bevölkerung, die mit minimalen Lebensmittelrationen auskommen muss und die viele Verfügungen der alliierten Kommandanten als Drangsalierungen empfindet, gelten Menschen wie Helga als Neidobjekt. Frauen geraten schnell in den Ruf, eine „Ami-Schlampe“ zu sein, also eine derjenigen Frauen, die ihr Heil in einer Liebesbeziehung oder in wechselnden Beziehungen zu amerikanischen Soldaten suchen.

Außerdem werden die deutschen Zivilbeschäftigten bei den Amerikanern von den eingefleischten Nationalsozialisten als Verräter, Paktierer und Kolaborateure verunglimpft.

Und wer weiß in dieser Zeit schon, wie es weitergehen wird? Wie zuvor erwähnt, der Krieg ist noch nicht vorbei. Vorbei scheint er vielleicht in diesem Teil Deutschlands, aber anderswo donnern noch die Kanonen und immer noch werden Städte bombardiert. Vor allem im Osten wird noch heftig gerungen.

Hast Du eine Vorstellung davon, wie wichtig es für Helga ist, dass ihr neuer Dienstherr ihr versichert, dass sie im Falle eines Falles auf seinen Schutz vertrauen kann?
Was, wenn die Situation kippt? Was, wenn die Deutschen doch noch einmal die Oberhand gewinnen?
Was, wenn hartgesottene Nazis in einem letzten Aufbäumen Ordnung schaffen wollen?
Und was wird passieren, wenn in ein paar Monaten das Interesse und die Aufmerksamkeit der Sieger erlahmt? Wie wird man dann mit Helga und den anderen „Kolaborateuren“ umgehen?

Um ihr Sicherheit zu geben, verspricht ihr der amerikanische Kommandant, wie vielen anderen – aber längst nicht allen-, dass die zivilen deutschen Helfer notfalls nach Amerika mitgenommen werden.

Versetzen wir uns nun 70 bis 80 Jahre weiter.

Die westlichen Alliierten kämpfen in Afghanistan gegen die Taliban und hatten die Taliban einst in die Berge gedrängt und Afghanistan vom Joch der islamistischen Stammeskrieger befreit. Am Hindukusch schien für kurze Zeit die Hoffnung aufzublühen, dass ein von Terror und Willkür befreites Land eine neue Zukunft beginnen könne. Doch dieser Einsatz war nicht allein eine militärische Operation: Wie jede fremde Armee brauchten auch die Amerikaner, die Briten und die Deutschen tausende Helfer im Hintergrund. Übersetzer, Mechaniker, Fahrer, Köche, Boten, Verwaltungsangestellte und Wachpersonal – Männer wie Frauen, die im Dienste der westlichen Truppen standen. Sie taten dies nicht aus Abenteuerlust oder politischer Überzeugung, sondern zumeist aus schierer Not, um ihre Familien zu ernähren, und weil man ihnen dafür Gegenleistungen versprach. Vor allem aber gab man ihnen ein Versprechen: dass sie nach dem Ende des internationalen Einsatzes nicht schutzlos zurückgelassen würden. Man versprach ihnen Sicherheit und, wenn nötig, eine Aufnahme in Deutschland.

Doch dann erklärte US-Präsident Joe Biden – nicht völlig überraschend, aber doch für viele überhastet – das Kapitel Afghanistan für beendet. Mit dem Rückzug der Amerikaner war auch für die Bundeswehr die Mission am Hindukusch vorbei. Übrig blieb kein befriedetes Land, keine stabile Demokratie, sondern eine zerrissene Nation, die schutzlos den zurückkehrenden Taliban ausgeliefert war.

Unvergessen sind die Bilder: jubelnde Sharia-Kämpfer, die in den Städten einmarschierten, während verzweifelte Menschen in Scharen an den Zäunen der Flughäfen hingen. Männer, Frauen, Kinder, die alles riskierten, um noch einen Platz in einem der letzten abhebenden Flugzeuge zu ergattern. Nur wenige schafften es tatsächlich hinaus – die meisten blieben zurück.

Und man muss sich fragen: Was geschah und geschieht mit jenen, die als „Kollaborateure“ oder „Verräter“ gelten? Für die Taliban ist allein die Mitarbeit bei westlichen Truppen ein unverzeihliches Verbrechen. Viele der einstigen Ortskräfte leben seitdem versteckt, im Untergrund, auf der Flucht. Es betrifft nicht nur die Helfer selbst, sondern ganze Familienverbände. In der Logik der Taliban gilt Sippenhaft. Oft reicht schon ein entfernter Kontakt, eine zufällige Bekanntschaft, um verschleppt, gefoltert oder getötet zu werden.

Für viele bleibt daher nur die Flucht ins Nachbarland Pakistan. Dort legen sie ihre Papiere vor, weisen sich als ehemalige Ortskräfte aus und suchen Schutz bei der Deutschen Botschaft. Doch statt der erhofften Rettung beginnt ein zähes, quälendes Verfahren: Antrag um Antrag, Prüfung um Prüfung. BKA, Bundespolizei, Verfassungsschutz, Auswärtiges Amt – alle beteiligten Behörden durchforsten jede Akte, jede Biografie. Befragungen wiederholen sich, Detailfragen werden akribisch gestellt, als müsse jeder einzelne unter Verdacht stehen, ein „Wirtschaftsflüchtling“ oder gar ein getarnter Terrorist zu sein.

Diese Verfahren ziehen sich über Monate, oft über Jahre hin. Sie sind für die Betroffenen zermürbend und entwürdigend. Und am Ende? Am Ende sitzen viele jener Menschen, denen man einst feierlich zugesichert hatte, sie nicht im Stich zu lassen, immer noch in Pakistan fest. Mehr noch: Zunehmend werden sie von dort wieder zurückgeschickt – zurück in ein Afghanistan, in die Hände der Taliban, vor denen sie doch gerade geflohen sind. Ein perfides Ende eines Versprechens, das eigentlich für Sicherheit und Schutz stehen sollte.

Dabei sind das keine Fremden, die „irgendwie“ nach Deutschland wollen. Sie sind unsere Helfer. Sie sind Teil unserer Geschichte in Afghanistan. Sie sind Menschen, die uns vertraut haben – und deren Leben nun bedroht ist, weil sie genau das taten: uns zu helfen.

Wir dürfen sie nicht in einen Topf werfen mit den vielen anderen Gruppen von Flüchtlingen, die aus wirtschaftlicher Not, aus allgemeiner Unsicherheit oder wegen politischer Umstände zu uns kommen. Diese Ortskräfte begehren nichts anderes, als die Einhaltung eines Versprechens, das wir Deutschen selbst gegeben haben. Sie wollen nicht mehr und nicht weniger, als das Recht, in Sicherheit zu leben – so, wie wir es ihnen zugesichert haben.

Es ist beschämend, dass wir zusehen, wie manche von ihnen nach jahrelangem Warten in Pakistan wieder zurückgeschickt werden – direkt in die Fänge der Taliban. Das ist nicht nur Wortbruch, das ist Verrat an den eigenen Werten.

Darum: Holt diese Menschen endlich nach Deutschland! Nicht irgendwann, nicht nach weiteren zermürbenden Jahren der Bürokratie, sondern jetzt. Aus Dankbarkeit, aus Anstand, aus Respekt. Denn wer anderen das Leben rettet, hat ein Recht darauf, dass man sein eigenes nicht den Mördern ausliefert.

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(©si)