Satire

Anke hat Tektonik!

frau ruckdäschl

„Sie, sie kenne mir ämol korz helfe“, so spricht mich heute Morgen Frau Ruckdäschl vom Parterre an. Frau Ruckdäschl, die hinter ihrer -stets spaltbreit geöffneten- Wohnungstüre lebt und sämtliche Lebenskraft aus Gesprächen zieht, die sie ihren Zeitgenossen im Treppenhaus aufzwingt, wird ja in unserer Familie nur die Scherohnie genannt.

Scherohnien sind in ihrer Sprache die Geranien, die sie auf ihrem Balkon liebevoll pflegt. Zwar spricht die alte Ruckdäschl inzwischen den hiesigen, sehr deftigen Dialekt, aber das eine oder andere Wort aus ihrer Hamburger Muttersprache hat sie sich bewahrt. Deshalb heißen bei ihr Geranien Scherohnien und sie bei uns auch nur kurz die Scherohnie.

Und um eben diese Scherohnien geht es ihr, als sie mich um meine Hilfe angeht. Auch vor dem Haus, neben der Haustüre, rechts und links, hat sie zwei Kübel mit Scherohnien platziert und fürchtet nun, der bald kommende Frost könne ihren blühenden Lieblingen Schaden zufügen.

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„Wann do der Froscht kummt, sindse hie“, was soviel heißt wie: „Sollte es jetzt durch einen plötzlichen Wintereinbruch zu vorzeitigem Frostgeschehen kommen, würde der kapillare Fluß der Pflanzensäfte durch Umwandlung in kristalline Strukturen den Pflanzenzellen schaden.“

Wie immer nicke ich ihr nur kurz zu und will mich schleunigst trollen, denn sonst dauert das Scherohniengespräch wieder über eine Stunde und man kann ihr kaum entrinnen, denn sie entwickelt in ihren Altfrauenhänden erstaunliche Kräfte, während sie einen am Ärmel festhält.
Aber dieses Mal komme ich gar nicht an ihr vorbei, denn sie hat sich klugerweise so zwischen mir und den Scherohnienkübeln vor dem Haus platziert, dass ich keine Chance habe.

„Die Kübel misse bloß in de Kella“, sagt sie und ich merke, dass ich nur dann meinen geplanten Tagesablauf fortsetzen können werde, wenn ich ihr jetzt eben mal schnell helfe.
Die blöden Kübel sind sauschwer, vermutlich um die 60 Kilo.

„Gell, die sin schwer?“, fragt sie, während sie mir die Kellertür aufhält.
Ich nicke abermals nur, wie sich mein Anteil an unserer doch recht häufigen Kommunikation in den meisten Fällen nur auf ein schlichtes Nicken oder gelegentliches unverständliches Brummen beschränkt.

Damit habe ich die besten Erfahrungen gemacht. Frau Ruckdäschl hat ein festes Programm an Themen, die sie sich morgens beim Frühstück zurechtlegt und das jeder Bewohner des Hauses bis zum Abend einmal über sich ergehen lassen muss. Das Einbringen eigener Themen würde diese Zeremonie nur unnötig dehnen und verzögern.

So wuchte ich auch noch den zweiten Kübel die Treppe hinunter und stelle dabei Überlegungen an, welche Wörter man in Gegenwart von Frau Ruckdäschl niemals verwenden darf. Ich gelange zu der Überzeugung, dass die Begriffe: Wetter, Tod, Krankheit und Nachbarn ganz entschieden dazu gehören. Diese darf man unter keinen Umständen benutzen, da man damit einen Redeschwall der Scherohnie auslöst, der über die morgens festgelegten Themen hinausgeht. Im Prinzip gehören auch die Wörter „und“, „ist“, „der, die, das“ und „ich“ zu den unbedingt zu vermeidenden Gesprächsauslösern.
Besser ist es, man nickt nur oder brummt, so wie ich.
Nickend und brummend erledige ich meine Zwangsarbeit und schwitze dabei wie ein mittelamerikanischer Otter bei der Paarung. Wegen des doch recht kühlen Wetters habe ich nämlich schon meine dicke Winterjacke an. Anke wollte das so: „So gehst du mir aber nicht aus dem Haus, Mann, es ist Winter!“

Dazu muss man wissen, dass für Anke die gesamten meteorologischen Erscheinungen auf zwei Wetterzustände reduziert sind. Entweder ist es der Allerliebsten warm, dann ist Sommer oder sie friert, dann ist Winter.
Das muss man wissen, sonst macht man bei der Beheizung der Räume entscheidende Fehler. Überhaupt gibt es dabei auch wiederum nur zwei Zustände: Entweder Heizung voll auf und alle Luken dicht, dann ist es nämlich gerade mal Winter für Anke oder Heizung aus und alle Fenster auf Durchzug. Sie erraten es: Genau! Dann ist Sommer.
Sommer und Winter gibt es aber für die Allerliebste nicht nur nach meteorologisch festgelegten Zyklen. Nein, mit den Jahreszeiten hat das überhaupt nichts zu tun. Die Jahreszeiten ändern sich für meine Allerliebste in stetem Wechsel mehrmals am Tag, ja, manchmal sogar mehrmals in der Stunde.

Der Mensch an sich ist ja in der Lage, eine gewisse Körpertemperatur auch unter widrigsten Umständen konstant aufrechtzuerhalten. Das sind so um die 37 Grad. Durch Zittern, Bewegung, Lethargie und Schwitzen können wir das ausgleichen und so auch höhere oder niedrigere Temperaturen aushalten. Für alles dazwischen gibt es in Deutschland ja die Übergangsjacke. Mir ist ja bis heute nicht klar, wann überhaupt Übergang ist. Aber der ordentliche, aufrechte und echte Deutsche zieht dann eine Übergangsjacke an. In anderen Teilen der Welt ist dieses Kleidungsstück absolut unbekannt, was nur daran liegen kann, dass die anderen rund 8 Milliarden Erdenbürger unbedarfte Ignoranten sind. So lange, wie es bei C&A Übergangsjacken gibt, sind wir jedenfalls gegen alle Arten von Übergängen gewappnet!

Dumm nur, dass ich keine Übergangsjacke habe.

Auf jeden Fall stammen die Vorfahren der Allerliebsten ganz augenscheinlich aus einer Gegend rund um die ungarische Steppe, in der der Übergang völlig unbekannt ist.
Es kann durchaus sein, dass Anke morgens aufsteht und befindet, das sei aber mal ein schöner Tag, fast wie im Sommer. Sie reißt alle Türen und Fenster auf und lässt mich zitternd und frierend zurück, während sie ins Bad verschwindet.
Das Thermometer fällt auf 7 Grad, Kühlschranktemperatur. Wenig später kommt sie mit feuchten Haaren aus dem Bad. Sie hat dann immer ein Handtuch um ihren Kopf geschlungen, also mehr so um das obere Ende ihres Kopfes, sonst würde sie ja nichts mehr sehen. Wobei, wenn ich so recht überlege, würde das keinen großen Unterschied machen, die Allerliebste ist, auch wenn sie etwas sieht, ziemlich ungeschickt und stolpert auch gerne mal, selbst wenn gar nichts da ist, über das man stolpern könnte. Aber das nur am Rande…
Sie kommt also aus dem Bad und auf der Stelle befindet sie, es sei ja bitterkalt: „Kaum zu glauben, was es eben wieder abgekühlt hat!“
Spricht’s, schraubt die Heizung voll auf und schließt alle Luken. Schon ist es wieder Sommer.

So geht das den ganzen Tag. Zu warm oder zu kalt, irgendetwas dazwischen gibt es für die Allerliebste nicht.
Mein Temperaturempfinden ist schon seit der Steinzeit etwas abgestumpfter, deshalb wollte ich auch heute Morgen die dicke Winterjacke nicht anziehen. Aber für Anke war es gerade mal wieder Winter, weshalb sie mich in aller Strenge in die dicke Jacke zwang, und deshalb schwitze ich jetzt wie ein Otter, während ich die Scherohnien-Kübel in den Keller wuchte.
Warum lässt sie das nicht Herrn Rübsam von oben machen? Der ist jungegebliebener, agiler Rentner, hat den ganzen Tag Zeit und erfreut sich bester Gesundheit. „Dem sei Frau is doch so arg krank“, belehrt mich die Scherohnie mit einem mitleidsvollen Unterton in der etwas abgesenkten Stimme.
Ja und? Hat er wegen der Krankheit seiner Frau seine Kräfte eingebüßt, denke ich. Aber dann wird mir bewusst, dass die Ruckdäschl ja gesagt hat, seine Frau sei krank. Sie hat ‚krank‘ gesagt, das deutet auf was Schlimmes hin. Sind die Leute hier in der Gegend nämlich bloß leicht erkrankt, etwa an einer Erkältung, dann haben sie ‚die Kränk‘. Man sagt dann: „Ei, isch hebb die Kränk!“

Da weiß dann jeder, dass man etwas Ansteckendes hat, das von allein wieder weggeht. Wenn aber jemand krank ist, dann hat er nicht nur ‚die Kränk‘ und das geht dann auch nicht von allein wieder weg.
Anders ist das, wenn die Leute erkältet sind. Dann haben sie die ‚Gripp‘. Damit ist in den allermeisten Fällen überhaupt keine Grippe gemeint, sondern mit ‚Gripp‘ werden sämtliche Erkrankungen der oberen Atemwege pauschal bezeichnet; also alles aus dem Bereich Husten, Schnupfen, Heiserkeit. Hat jemanden die Grippe, also die echte Influenza, tatsächlich mal erwischt, dann hat er zwar auch die ‚Gripp‘, bloß sagt man dann ‚Gripp‘ mit einem ganz anderen Unterton und man muss dann die Augen so komisch rollen und mit dem Kopf wackeln. Das ist dann der Teil der nonverbalen Kommunikation, der es oftmals so schwierig macht, die Leute hier zu verstehen.

Frau Rübsam von oben ist also ernsthaft krank, weil sie hat ja weder ‚die Kränk‘, noch ‚die Gripp‘ und aus diesem Grund kann ihr Mann keine Kübel schleppen. Eigentlich bin ich doch doof. Schließlich ist der Umstand, dass Anke abwechselnd immer friert und dann wieder schwitzt, auch nicht normal. Das hat doch auch krankhafte Züge. Ich zermartere mir das Gehirn, gehe im Kopf den ganzen Pschyrembel durch, komme aber zu keinem Ergebnis. Da ich aber sicher bin, dass sich Frau Ruckdäschls medizinische Kenntnisse auf Wartezimmer-Hörensagen beschränken, erfinde ich einfach eine Krankheit.

„Meine Frau hat ja auch Tektonik“, sage ich und füge noch hinzu: „Ganz schlimm sogar, sie friert und schwitzt gleichzeitig.“
Ein blöderes Wort als Tektonik ist mir nicht eingefallen. Jeder halbwegs klar denkende Mensch hätte mich jetzt ausgelacht, aber solche Menschen wohnen bei uns nicht.

„Was, Tektonik?“, fragt die Scherohnie und dehnt dabei das Wort Tektonik in die Länge und senkt ihre Stimme ganz teilnahmsvoll: „Ach du meine Güte! Und da halte ich sie hier auf, sie wollten doch bestimmt zur Apotheke oder zum Doktor. Das ist ja eine ganz schlimme Krankheit. Ich glaube, da hab‘ ich in der Apothekenzeitung davon gelesen. Gell, da muss man sterben, oder?“

Ich bin mir zwar sicher, dass Anke eines Tages sterben wird, aber zumindest im Augenblick macht sie keine diesbezüglichen Anstalten. Gut, manchmal, wenn sie so dasitzt, tippe ich sie schon mal mit dem Fuß an oder sage was Liebes, um eine Reaktion zu erzeugen. Das Stilldasitzen ist nämlich eine Sache, die Anke besonders gut kann. Aber das ist wieder eine andere Geschichte.

Heute Morgen, als sie mich in meine dicke Winterjacke zwang, war sie jedenfalls sehr lebendig. Aus diesem Grunde beantworte ich die Fragen der Scherohnie so, wie sie es von mir kennt, ich brumme nur etwas Unverständliches.

Immerhin bin ich sofort von sämtlichen Aufräumaktionen rund um das Haus befreit. Die Scherohnie hätte da noch den einen oder anderen Blumenkasten in ihrem Repertoire gehabt. Später am Tag sehe ich dann, dass Kalle, der Schrauber, das machen muss. Aber was kann ich dazu, dass er so eine kerngesunde Frau hat?

Ich gehe fort, kaufe eine Zeitung und auf dem Heimweg nehme ich beim Bäcker noch frische Brötchen mit. Zu Hause mache ich Anke ein wunderschönes Frühstück und überrasche sie damit.

„Was ist denn mit dir los?“, will die Allerliebste wissen.

„Nix, aber du brauchst kräftige Nahrung“, sage ich.

„Häh?“

„Ja, wo du doch Tektonik hast!“

„Lass mich raten, du hast die Ruckdäschl getroffen, oder?“

„Genau.“

„Ach du Scheiße, was hast du der denn bloß wieder erzählt?“

Ich berichte ihr in kurzen Worten von meiner Begegnung mit der Scherohnie und Anke muss lachen. Dann aber wird sie nachdenklich und sagt: „Tja, aber jetzt haben wir ein Problem. Ich muss nachher ins Büro und wenn sie mir dann im Treppenhaus begegnet, wie macht man denn dann Tektonik?“

„Nun, das ist dein Problem! Ist es mir immer zu kalt und zu heiß, oder dir?“

„Du spinnst! Was hat das denn damit zu tun?“

„Wäre es dir vorhin nicht mal wieder zu kalt gewesen, dann hättest du mich nicht in die dicke Winterjacke gesteckt und dann hätte ich nicht so schwitzen müssen – und du hättest jetzt keine Tektonik!“

„Dreibeine!“

©2006


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Satire ist eine Kunstform, mit der Personen, Ereignisse oder Zustände kritisiert, verspottet oder angeprangert werden. Typische Stilmittel der Satire sind die Übertreibung als Überhöhung oder die Untertreibung als bewusste Bagatellisierung bis ins Lächerliche oder Absurde.

Üblicherweise ist Satire eine Kritik von unten (Bürgerempfinden) gegen oben (Repräsentanz der Macht), vorzugsweise in den Feldern Politik, Gesellschaft, Wirtschaft oder Kultur.

Lesezeit ca.: 14 Minuten | Tippfehler melden | Peter Wilhelm: © 7. Juli 2024

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