Schon wird nach neuen, schärferen, härteren und allumfassenden Gesetzen gerufen: Ein Politiker ist beim Kleben von Wahlkampfplakaten angegriffen und verletzt worden. Er musste im Krankenhaus behandelt werden.
Das ist eine boshafte und gemeine Tat, die ich verurteile. Und ich hoffe, dass der/die Täter eine gerechte Strafe bekommen.
Ich möchte auch gleich hier zu Anfang meines Textes darauf hinweisen, dass ich die Tat nicht kleinreden möchte. Der verletzte Mann tut mir außerordentlich leid.
Aber in den 70er-Jahren war ich für eine große deutsche Volkspartei als Vollzeit-Wahlkämpfer unterwegs. Meine Arbeit bestand darin, den Wahlkampfbus zu fahren und mit dem Vehikel Marktplätze anzusteuern, wo dann die Kandidaten und ihre Helfer Luftballons und Fähnchen verteilten.
Auch die Kontrolle von über 300 Plakatständern und an die 100 Großplakaten sowie das Nachkleben beschädigter Plakate gehörte zu meinem Job. Außerdem fuhren wir, wie das damals noch üblich und sehr beliebt war, mit Musik und Lautsprecherdurchsagen herum. Vor über 50 Jahren waren die Wahlkampf-Infostände bei der Bevölkerung noch sehr beliebt. Man war noch nicht ganz so verwöhnt und freute sich über die Kugelschreiber, Kalender und kleinen Spielzeuge, die verschenkt wurden. Auch hatten die Leute noch Lust und Muße, sich die spontanen Reden der Kandidaten anzuhören.
Ich habe im Ruhrgebiet Wahlkampf gemacht, in Essen, genauer gesagt im Essener Norden. Etwas ironisch möchte ich sagen, dass die Welt damals noch in Ordnung war: Es gab zwei Parteien von Bedeutung, die SPD und die CDU. Die wenigen, die FDP wählten, konnte man an den Autos erkennen, die sie fuhren.
Meine Partei war die CDU. Die lieferte sich oft genug in unseren Wahlkreisen ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit den Roten. Im Essener Norden war es aber damals so, dass man -so sagten es die Leute- einem Dackel ein rotes Fähnchen hätte an den Schwanz binden können, er wäre gewählt worden.
Arbeiter, durch und durch überzeugt von der Sozialdemokratie, waren der Hauptteil der Bevölkerung in manchen Stadtteilen. Als CDUler hatte man da keinen guten Stand.
Ich musste jeden Tag einen anderen Bezirk abfahren und alle Plakate kontrollieren. Es gab diese Dreiecksständer um Bäume und Verkehrsschilder herum und große Plakatwände. Die Plakatwände wurden von einer großen Plakatfirma betreut, und wenn da mit den Plakaten mal was war, musste ich dort anrufen. Die kleineren Ständer mit den etwa anderthalb Meter großen Plakaten standen in unserer Verantwortung. An jedem Ständer, die von der Stadtverwaltung aufgestellt wurden, war oben eine bunte Marke aus Metall angeschraubt. Die blauen waren die CDU-Plakatständer und die orangefarbenen gehörten der SPD. Andere Parteien hatten lila und grün.
Ich kontrollierte im Vorbeifahren, ob die Plakate noch gut aussahen. Manchmal hatte ihnen das Wetter zugesetzt und sie mussten neu angeklebt werden. Dazu hatte ich immer einen großen Eimer Kleister und genug Ersatzplakate dabei.
Oft genug waren die Plakate aber auch beschmiert worden. Irgendwann hatte die Kreisgeschäftsstelle mal eine Strichliste angefordert: 10 % der Plakate wurden regelmäßig beschmiert. Beliebtestes Motiv war die Brille, die man dem Kandidaten aufmalte, was deshalb besonders blöd war, weil alle unsere Kandidaten damals ohnehin Brillenträger waren. Doch schon an zweiter Stelle kamen die beliebten Hitlerbärtchen, gefolgt von Hakenkreuzen und SS-Runen. An dritter Stelle lagen dumme Sprüche wie beispielsweise „Sau“, „CDU raus“ oder „doof“.
Ganz beliebt war es auch, Plakate einfach abzureißen, es musste bloß irgendwo ein Zipfelchen abstehen. Damit das nicht so leicht passierte, hatte ich dem Kleister etwas Plastikkleber aus dem Modellbau beigemischt, der dafür sorgte, dass die Plakate vor allem am Rand besonders glatt und fest klebten.
Geschmiert und abgerissen wurde übrigens hier wie da. Auch Plakate der SPD wurden kaputtgemacht und bemalt. Aber es ist keine Schönrederei, wenn ich sage, dass die CDU-Anhänger nicht so sehr an diesem „Wettbewerb“ teilnahmen wie die SPD-Leute.
Das war wirklich so.
Heute würde das Bemalen mit Hakenkreuzen und Hitlerbärtchen vermutlich gleich die Staatsschutzabteilung der Polizei auf den Plan rufen und Anzeigen nach sich ziehen. Damals haben wir solche Schmierereien einfach mit neuen Plakaten überklebt.
Denn man muss sich ja auch vor Augen führen, dass viele dieser Schmierereien von Kindern, Unbedarften und aus Langeweile vorgenommen wurden. Überzeugte Sozialdemokraten malten so etwas auch aus tiefer innerer Überzeugung da hin, um darauf hinzuweisen, dass viele Positionen in der CDU damals noch von ehemaligen Nazis besetzt sein könnten. Und so ganz Unrecht hatten sie ja auch teilweise nicht.
Wie zuvor erwähnt, das waren einfache Arbeiter, Rentner und eben überzeugte SPDler, bei denen schon der Opa in der SPD war und der „Vatter“ und die ganze Familie.
Wir haben das nicht als Angriff auf die Demokratie verstanden, wir haben uns nicht beleidigt gefühlt, wir haben da keine behördliche Unterstützung benötigt. Das war reine Provokation, der Ausdruck persönlichen Ärgers und der Versuch, den Wahlkampf mit einfachen Mitteln zu beeinflussen.
An einer Stelle konnte ich beim Wegfahren im Rückspiegel immer schon beobachten, wie ein Rentner mit Farbtöpfchen und Pinsel zum eben geklebten Plakat ging, um wieder Brille, Hitlerbärtchen und Hakenkreuz hinzumalen.
Lustig fand ich auch die Episode um die Mennige. Mennige ist eine orangerote, bleihaltige Farbe1, die man aus Korrosionsschutzgründen früher auf alle möglichen Eisen- und Stahlkonstruktionen als Grundierung aufpinselte. Später wurde diese bewährte und wirksame Rostschutzfarbe wegen des giftigen Bleianteils durch modernere, anders-giftige Alternativen ersetzt. Die Golden Gate Bridge in San Francisco leuchtete übrigens wegen ihres Anstrichs mit Mennige so rötlich-golden. Heute ist die Brücke in ähnlichem Farbton mit Acrylfarbe angemalt.
So, nun waren auch die Metallmarken, die unsere Wahlkampfständer markierten, unter der kennzeichnenden Farbe mit Mennige angestrichen. Wie ich schon erzählte, waren unsere Marken blau und die von der SPD rot-orange. Irgendjemand ist auf die Idee gekommen, an vielen Ständern unsere blaue Farbe abzukratzen. Zum Vorschein kam die darunterliegende Mennige, die wiederum rot-orange war. Und schwups hatte man aus einem CDU-Plakatständer einen für die SPD gemacht. Wir wunderten uns, dass es auf einmal immer mehr SPD-Plakate gab und wir immer weniger CDU-Ständer fanden.
Das war ein Kleinkrieg zwischen den Plakateklebern der einen und der anderen Partei. Ein „Krieg“, den wir mit Humor und Sportsgeist nahmen und trotz teils unversöhnlicher Hartnäckigkeit war das nicht. der Weltuntergang und nicht der Untergang des demokratischen Abendlandes.
Aber es gab auch Menschen, die das weniger sportlich sahen. Ich meine, ich war in dieser Zeit Profi. Ich hatte Semesterferien und bekam eine kleine Entschädigung vom Kandidaten. Von morgens 9 Uhr bis gegen 19 Uhr (mit Unterbrechungen) war ich unterwegs. Morgens wurde Nachschub an Plakaten und Werbematerial in Düsseldorf geholt, dann musste das Material an verschiedene Ortsverbände verteilt werden und nach der Mittagspause wurde geworben, kontrolliert und geklebt. Ab 16 Uhr wurde ich fast immer von einem guten Freund oder anderen Mitgliedern begleitet, die sich auch in den Wahlkampf einbringen und helfen wollten.
Und das war gut so. Denn ab und zu wurden politische Gegner auch handgreiflich. „Ein paar in die Fresse“ habe ich öfters mal bekommen. Man wurde geboxt, geschlagen und getreten, aber nicht zusammengeschlagen. „Hau ab, du Arschloch!“ und zack!
An einer Stelle war es besonders kritisch. Dort standen gleich zwei Plakatständer nahe beieinander und die waren immer beschmiert. Ich hielt dort nur noch an, wenn ein bestimmter Opel-Kadett nicht dort parkte. Denn das zeigte an, dass der Opa, der dort wohnte, nicht zu Hause war.
Stand der Kadett da, konnte man sicher sein, dass der Kleingärtner mit einer Axt hinter dem Tor lauerte und axtschwingend und schreiend auf uns zugerannt kam.
An einer anderen Stelle durften wir uns nicht zu weit vom Auto entfernen, denn sonst wurden uns dort in unserem Beisein von grobschlächtigen Autoschlossern einer kleinen Werkstatt die Reifen zerstochen. Das ist zweimal passiert und seitdem blieb immer einer bei laufendem Motor am Steuer sitzen.
Natürlich gab es Parteikollegen, die das alles nicht so locker sahen, wie wir doch noch recht jungen Leute. Die regten sich auf, machten Meldungen an den Stadtwahlleiter und ich glaube ein- oder zweimal wurde auch die Polizei informiert.
Aber es war halt eben alles nur ein rauher Umgang auf der untersten Ebene der Parteiarbeit.
Dass das alles eine Art Wettkampf auf eben dieser Ebene war, kann ich an einem Fall festmachen: Mitten im Landtagswahlkampf verstarb damals plötzlich der CDU-Kandidat Heinrich Köppler. Das muss man sich einmal vorstellen. Monatelang wird darauf hingearbeitet, einen Mann als Kandidaten aufzubauen und dann stirbt er. Tragisch. Doch auch hier galt: The show must go on!
Kurt Biedenkopf sprang als Kandidat ein und der Wahlkmapf sollte nach einigen Tagen Trauerpause weitergehen. Bis dahin wurden die Plakate, die noch Heinrich Köppler zeigten, mit einem Trauerflor überklebt. Quasi über Nacht mussten wir hunderte von Plakaten mit diesem schwarzen Streifen versehen.
Als ich an einem besonders hoch hängenden Plakat auf einer Leiter balancierte, kam der Typ angelaufen, der für die SPD auf der anderen Straßenseite die Plakate klebte. Ohne viel Aufhebens hielt er mir die Leiter und ohne zu quatschen half er mir, an zehn oder zwölf anderen Plakaten die Trauerflore anzukleben.
Warum erzähle ich das?
Weil ich klar machen möchte, dass es nichts Neues ist, dass im Wahlkampf auch mit härteren Bandagen und manchmal schmutzigen Methoden gekämpft wird. Sachbeschädigung, Körperverletzung und Volksverhetzung kamen immer wieder vor. Das ist also erstmal nichts Neues und nichts Besonderes.
Aber: Es musste niemand ins Krankenhaus, kein Hakenkreuzschmierer verfolgte nationalsozialistische Ziele und am Ende ist alles immer gut ausgegangen.
Heute sieht das anders aus. Es ist fast schon zum Volkssport geworden, Ehrenamtliche, Rettungskräfte, Polizisten, Bundeswehrsoldaten und eben auch Politiker zu beleidigen, körperlich anzugehen und das Ganze auch noch mit dem Smartphone zu filmen.
Es gibt gewaltbereite Gruppen, wie Reichsbürger, Neonazis und irgendwelche wirren Klimatypen, die keine Grenze mehr kennen und glauben, ihre Ideologie würde es ihnen erlauben, in strafbarer Weise gegen andere vorzugehen.
Es ist eine Schande, dass wir jetzt so weit gekommen sind, dass sich Ehrenamtliche nur noch unter Schutz trauen, ihr Ehrenamt auszuüben. Man darf ja nicht vergessen, dass Leute, die Flugblätter verteilen, Prospekte in die Briefkästen werfen und Plakate kleben, ganz normale Mitbürger sind. Das sind Hausfrauen, Arbeiter, Angestellte, Lehrer, Metzger und Rentner. Das ist keine hochbezahlte Parteielite, die Entscheidungen trifft und auf die man möglicherweise mit Recht zornig ist. (Was nicht bedeutet, dass die es verdient hätten, oder so.)
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