Immer wieder tauchen in Leserfragen scheinbar zeitlose Zitate auf, die angeblich aus der Antike stammen. Und oft steckt eine Überraschung dahinter.
Gemeint ist die berühmte Klage über die angeblich verdorbene Jugend, die gerne Sokrates, Aristoteles, Platon oder anderen antiken Denkern zugeschrieben wird. Der Text wird häufig so zitiert, als sei er mehr als zweitausend Jahre alt und enthalte die ewige Wahrheit, dass junge Menschen schon immer frech, respektlos und aufmüpfig gewesen seien. Genau deshalb funktioniert der Gag so gut: Erst schmunzelt man über die erstaunliche Aktualität, dann staunt man über das angeblich biblische Alter des Zitats.
Die Klage über die Jugend
Der häufig zitierte Wortlaut klingt ungefähr so:
„Die Jugend von heute liebt den Luxus, hat schlechte Manieren, verachtet die Autorität, widerspricht den Eltern, tyrannisiert die Lehrer und ist überhaupt verdorben.“
Nur eine urbane Legende
Das Überraschende daran: Dieses sogenannte antike Wort stammt in Wirklichkeit nicht aus der Feder eines griechischen Philosophen. In keiner klassischen Quelle findet sich der oft kolportierte Wortlaut, und weder Platon noch Aristoteles noch Sokrates haben es so gesagt oder geschrieben. Die moderne Version entstand erst viele Jahrhunderte später, vermutlich im 18. oder 19. Jahrhundert, und verbreitete sich dann als amüsanter rhetorischer Trick. Wer das Zitat einsetzt, will nicht überliefertes Wissen präsentieren, sondern den Effekt von Wiedererkennbarkeit und zeitloser Klage über die Jugend erzeugen.
Dass das Zitat so überzeugend wirkt, liegt daran, dass jede Generation über die nächste schimpft. Schon in echten antiken Texten gibt es gelegentliche Bemerkungen über die mangelnde Disziplin junger Leute. Doch der markige Standardspruch, der stets als Beweis für die ewige Gleichförmigkeit des Generationenkonflikts herhalten muss, ist ein modernes Produkt. Seine ganze Wirkung beruht auf dem Moment der Enthüllung: Man glaubt, ein 2400 Jahre altes Dokument vor sich zu haben, während man in Wahrheit eine nette Erfindung der Neuzeit liest.
Wer also künftig über den angeblichen Sokrates-Spruch zur Jugend stolpert, darf gerne weiter schmunzeln – aber ebenso wissen, dass sich dahinter ein amüsanter Mythos verbirgt und kein antikes Original.
Die wichtigsten Erkenntnisse zur Herkunft
- In der Antike existiert dieser Wortlaut nicht.
Weder in den Dialogen Platons noch in Aristoteles’ Schriften noch bei Xenophon findet sich eine Passage, die dem populären Zitat entspricht. Das ist gut erforscht und sicher. - Der älteste echte „Tonfall“ findet sich bei Aristoteles – aber nicht der Text.
In der „Rhetorik“ und der „Nikomachischen Ethik“ wird beklagt, dass junge Menschen impulsiv, leidenschaftlich und unbeständig seien. Das klingt vage ähnlich, aber entspricht nicht der modernen Version, die fast moralpanisch wirkt. - Eine der frühesten belegten modernen Fassungen stammt aus dem Jahr 1907.
In „The Youth of Today“ (The Hibbert Journal, 1907) wird eine Passage zitiert, die bereits der bekannten Form sehr ähnelt und als Beispiel für zeitlose Jugendkritik verwendet wird. Dort wird sie aber noch nicht Sokrates zugeschrieben, sondern allgemein als „alt“ bezeichnet. - Eine ältere, oft genannte Spur führt ins 19. Jahrhundert (England und USA).
Es gibt Parallelen in viktorianischen Textsammlungen über „Complaints of Old Times“, also Sammlungen historischer Klagen. Dort tauchen ähnliche, aber nicht identische Sätze auf. Der genaue Wortlaut des bekannten Zitats ist jedoch nirgends authentisch überliefert. - Die Zuschreibung an Sokrates taucht erst im frühen 20. Jahrhundert auf.
Das erste sicher belegte Auftreten des Zitats mit der Behauptung, es stamme von Sokrates, findet sich 1966 im „Journal of Education“ (USA). Von dort aus wanderte es in Lehrbücher, Zeitungsartikel und schließlich ins Internet.
Wahrscheinlichster Ursprung
Nach allem, was wir heute wissen, handelt es sich um eine moderne Kompilation, stark beeinflusst durch:
- viktorianische Moralliteratur
- Sammelwerke über historische Klagen
- die Tendenz, pointierte Aussagen rückwirkend berühmten Philosophen zuzuschreiben
Der „Sokrates-Effekt“ – also die vermeintliche Altertümlichkeit – wurde nachträglich erzeugt, um die Pointe zu verstärken.
Fazit
Es ist ein Mythos, dessen Kern aus echten antiken Beobachtungen stammt, dessen Formulierung aber erst zwischen dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert entstanden ist. Der heute verbreitete Wortlaut ist ein Produkt der Moderne – und seine angebliche Herkunft aus der Antike gehört zur Inszenierung.
Bildquellen:
- sophokles: Peter Wilhelm
- sophokles_800x500: Peter Wilhelm KI
Hashtags:
Ich habe zur besseren Orientierung noch einmal die wichtigsten Schlagwörter (Hashtags) dieses Artikels zusammengestellt:


















Da merkt man, dass man es hier mit einem Akademiker zu tun hat, der die große Kunst beherrscht, solche Sachen leicht verständlich zu beschreiben.
Ich habe wieder einmal viel gelernt.
Super, dass Sie den Sachen immer so auf den Grund gehen.
Ich bin da auch sehr vorsichtig jemanden ein Zitat zuzuschreiben. Einfach weil es schon lange das Problem gibt das vermeintlich wichtige Persönlichkeiten genutzt werden um einer Aussage mehr Gewicht zu verschaffen.
Aber ich mag so kleine „Weisheiten“ auch sehr gerne, mir helfen sie häufig mich auf das wesentliche zu konzentrieren, oder auch Mut zu fassen wenn etwas nicht so läuft wie man es erhofft hat.
Spannend finde ich aber auch neuzeitliche Kurzgeschichten wie die Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral… man könnte meinen das Thema work-life-balance wäre gar keine Erfindung der Gen-Z…
Am interessantesten finde ich den Aspekt das Geschichte dazu neigt sich zu wiederholen…
In einem Rhetorik-Seminar erklärte der „Coach“, man könne jeglichen Zweifel am nachfolgend Gesagten schon im Voraus ausräumen, indem man seine Behauptung mit einem der vier folgenden Sätze eingeleitet wird:
1. Schon Sokrates (passenden Namen wählen) sagte….
2. Wie US-amerikanische Wissenschaftler vor drei Jahren herausfanden…
3. Was die Dummen in der Bevölkerung ja gar nicht wissen…
4. Zahlreiche Studien belegen ja hinreichlich dass…
Ich behaupte, heute reicht auch diese fünfte Variante:
5. Die TikTok-Influencerin Balla-Balla-Girl hat gestern gepostet…