{"id":479,"date":"2016-01-14T07:35:43","date_gmt":"2016-01-14T06:35:43","guid":{"rendered":"http:\/\/dreibeinblog.de\/der-baum\/"},"modified":"2016-05-13T19:49:11","modified_gmt":"2016-05-13T17:49:11","slug":"der-baum","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/dreibeinblog.de\/der-baum\/","title":{"rendered":"Der Baum"},"content":{"rendered":"

Sag mal, h\u00f6rst du das?“, fragt die Allerliebste.<\/p>\n

In solchen F\u00e4llen sage ich vorsichtshalber immer: „hmmm“.<\/p>\n

„Das ist doch unheimlich, oder?“<\/p>\n

Ich mache wieder „hmmm“ und tippe weiter.<\/p>\n

„H\u00f6rst du mir \u00fcberhaupt zu?“<\/p>\n

„Ja doch!“<\/p>\n

„Was k\u00f6nnte das denn sein?“<\/p>\n

Wenn ich jetzt zur\u00fcckfrage ‚Was denn?‘, w\u00fcrde ich ja zugeben, dass ich ihr nicht zugeh\u00f6rt habe, dass mein ‚welche Schuhe soll ich anziehen?‘-Durchzugskanal auf Durchzug geschaltet war. So ist es besser, dass ich nur irgendetwas ganz unverst\u00e4ndliches murmele. Das muss aber klingen, wie ein Wort mit mehreren Silben, sonst merkt die das!<\/p>\n

<\/p>\n

Gott-sei-Dank, sie merkt es diesmal nicht und sagt: „Das ist ein regelrecht gef\u00e4hrliches Ger\u00e4usch.“<\/p>\n

Bei dem Wort ‚gef\u00e4hrlich‘ merke ich auf. Was ist da gef\u00e4hrlich? Vorsichtig erkundige ich mich:
\n„Ja, das klingt gef\u00e4hrlich, was meinst du, was das sein k\u00f6nnte?“<\/p>\n

„Das wollte ich eigentlich von dir wissen.“<\/p>\n

„Ich weiss es auch nicht, was meinst du?“<\/p>\n

In diesem Moment h\u00f6re ich es auch. Von drau\u00dfen t\u00f6nt ein lautes Knarren und Krachen an meine Ohren. ‚Gefahr f\u00fcr die H\u00f6hle‘, meldet der Teil meines Gehirns, der noch aus der Steinzeit \u00fcbrig ist und ich gehe auf den Balkon.<\/p>\n

Es scheint von den B\u00e4umen herzur\u00fchren, die am Rande unseres Grundst\u00fccks stehen. Von dort kommt ein unglaublich lautes Knarren. Und eben auf dieses Knarren konzentriere ich mich, als meine kleine ungarische Steppenl\u00e4uferin leichtf\u00fc\u00dfiger als sonst hinter mich tritt und mir, um das Knarren zu \u00fcbert\u00f6nen, pl\u00f6tzlich ins Ohr ruft: „Unheimlich, oder?“<\/p>\n

Mir f\u00e4hrt der Schreck in die Knochen und ich zucke zusammen.<\/p>\n

„Siehste“, sagt sie, „jetzt erschrickt es dich auch.“<\/p>\n

„Das warst du!“<\/p>\n

„Ich habe doch nicht geknarrt, das sind die B\u00e4ume!“<\/p>\n

In diesem Moment kracht und knarrt es wieder und w\u00e4hrend ich noch mit den Augen suche, welcher der vielen B\u00e4ume da knarrt und kracht, h\u00f6re ich ein wirklich unheimliches Ger\u00e4usch. Zuerst klingt es so, als ob ein Zug in einen Tunnel einf\u00e4hrt, so ein gleichm\u00e4\u00dfiges, langgezogenes Grollen. Dann folgt ein Knarren, als wenn ein Riese ein gigantisches Tor aufschiebt, das schon lange nicht mehr ge\u00f6lt wurde. Was folgt, ist ein explosionsartiger Knall und der mittlere von allen B\u00e4umen, eine 25 Meter hohe Pappel, bricht in der Mitte auseinander.
\nObwohl der Knall klang, wie von einer Kanone abgefeuert, geschieht das, was folgt, wie in Zeitlupe. Die Krone neigt sich mit einem \u00fcber 10 Meter langen St\u00fcck des Stammes zur Seite.<\/p>\n

Die Allerliebste kr\u00e4ht: „Der f\u00e4llt uns auf den Kopf!“<\/p>\n

Mit der \u00dcberlegenheit eines Dreibeins nehme ich sie in den Arm, um ihr das Gef\u00fchl des Geborgenseins zu vermitteln und meinen m\u00e4nnlichen Schutz auf sie einwirken zu lassen. Statt sich nun an mich zu schmiegen, sch\u00fcttel sie mich ab und ruft:
\n„Du brauchst dich jetzt gar nicht \u00e4ngstlich an mich zu dr\u00fccken!“<\/p>\n

W\u00e4hrenddessen hat der umsinkende Baum die Kronen der neben ihm stehenden B\u00e4ume gestreift, bleibt mal hier, mal dort h\u00e4ngen und schlie\u00dflich t\u00f6nt ein Knacken an unsere Ohren, das anzeigt, dass er sich jetzt richtig im Wipfel eines kleineren, benachbarten Baumes verhakt hat.<\/p>\n

Da h\u00e4ngt er nun direkt \u00fcber den Parkpl\u00e4tzen neben unserem Haus, unter ihm das Auto von Frau Muschelknautz vom zweiten Stock. Ich schiebe die Allerliebste beiseite und rufe vom Wohnzimmer eben bei Frau Muschelknautz an.<\/p>\n

„Hallo Frau Muschelknautz? Hier ist Wilhelm, ich wohne unter ihnen. Ich muss ihnen was sagen…“<\/p>\n

„Wer ist da?“<\/p>\n

„Wilhelm!“<\/p>\n

„Nein, da sind sie falsch verbunden, hier ist Muschelknautz.“<\/p>\n

„Das wei\u00df ich, ich wohne doch unter ihnen.“<\/p>\n

„Nein, ich habe keinen Untermieter, das w\u00fc\u00dfte ich doch!“<\/p>\n

„H\u00f6ren Sie, da drau\u00dfen ist ein Baum abgebrochen und sie sollten Ihr Auto besser wegfahren.“<\/p>\n

„Wer ist \u00fcber den Zaun gekrochen?“<\/p>\n

Ich lege einfach auf und gehe selbst nach oben. Durch die Wohnungst\u00fcr h\u00f6re ich, wie Frau Muschelknautz offenbar immer noch in ihren Telefonh\u00f6rer kr\u00e4ht:<\/p>\n

„Soll das ein obsz\u00f6ner Anruf sein? Melden Sie sich gef\u00e4lligst! Unversch\u00e4mtheit, eine alte Frau so zu \u00e4rgern. Sie sollten sich sch\u00e4men, Sie W\u00fcstling, Sie L\u00fcstling!“<\/p>\n

Ich klingele schon zum dritten Mal und endlich macht sie mir die T\u00fcr auf.<\/p>\n

„Ach Sie sind es, Herr Wilhelm.“<\/p>\n

„Frau Muschelknautz, drau\u00dfen ist eine Pappel zersplittert…“<\/p>\n

„Was ist mit Pappe vergittert? Sie m\u00fcssen etwas lauter sprechen.“<\/p>\n

Ich strenge mich an und spreche so laut ich kann:<\/p>\n

„Auto! Baum! Kaputt!“<\/p>\n

Das wirkt! Die Alte greift sich ihren Schl\u00fcsselbund und entwickelt eine, f\u00fcr ihr Alter erstaunliche, Geschwindigkeit. Durch mein Rufen habe ich aber auch die ganzen anderen Rentner in unserem Haus von ihren Vormittags-Talkshows weggerufen. Das Treppenhaus f\u00fcllt sich und ich h\u00f6re, wie Frau Kleiberle von unten zu Frau Muschelknautz sagt: „Hat der Ihnen was getan?“
\nHerr Ofenloch hat vorsichthalber einen kleinen schwarzen Knirps-Regenschirm in der Hand, mit dem er sich drohend in die andere Handfl\u00e4che schl\u00e4gt. Seine Augen funkeln gef\u00e4hrlich und ich wei\u00df, dass das ein schlechtes Zeichen ist. Die Eingeborenen hier sind durch zahlreiche Raufereien bei den mehrmals j\u00e4hrlich stattfindenden Gockel-, Fischer-, Wein- und Kirchweihfesten besonders im Raufen und Pr\u00fcgeln geschult. Da helfen mir im Zweifelsfall meine fast zwei Meter K\u00f6rpergr\u00f6\u00dfe und nahezu zwei Zentner Lebendgewicht auch nur bedingt weiter.<\/p>\n

Die Lage entspannt sich erst, als ich die etwa zw\u00f6lfk\u00f6pfige Eingeborenenabordnung davon \u00fcberzeugen kann, dass ich keinesfalls die Absicht hegte, die beinahe 80-j\u00e4hrige und ebenso schwerh\u00f6rige, wie schwergewichtige Frau Muschelknautz zu meiner Sexgespielin zu machen.
\nHerr Worschtesupp vom Nebenhaus ruft von unten hoch: „Do is’n Boom gebroche!“<\/p>\n

Die Lynchtruppe verliert schlagartig das Interesse an mir und man stiefelt geschlossen nach unten, um Frau Muschelknautz beim Umparken zuzuschauen. Nun ist Frau Muschelknautz eine typische Vertreterin sowohl ihres Geschlechts, als auch ihrer Altersklasse und f\u00e4hrt entsprechend. Etwa 18 mal muss sie vor- und zur\u00fccksetzen, bis sie ihr Auto endlich aus der Gefahrenzone man\u00f6vriert hat.<\/p>\n

Ich schaue mir das Ganze von meinem Balkon an und insgeheim steigt in mir der Wunsch auf, der Baum k\u00f6nne sich jetzt und in diesem Moment schlagartig von seiner vor\u00fcbergehenden Ruhestellung in der Nachbarkrone befreien und die gesamte versammelte Nachbarschaft zermalmen.<\/p>\n

W\u00e4hrend ich da so stehe und in meinen Tr\u00e4umen schwelge, kommt die Allerliebste mit dem Telefon am Ohr auf den Balkon und ich h\u00f6re, wie sie mit der Feuerwehr telefoniert.
\nSie schildert die Gefahrensituation und vergisst auch nicht am Ende zu sagen: „Und noch eins, wir bezahlen den Einsatz nicht, wir melden das blo\u00df!“<\/p>\n

Gutes M\u00e4dchen! Man wei\u00df ja nie.<\/p>\n

Zu mir gewandt sagt sie: „Wir k\u00f6nnen ja froh sein, dass unser Auto da ganz hinten am Ende der Stra\u00dfe steht, da kann ihm nichts passieren.“<\/p>\n

Wenig sp\u00e4ter h\u00f6re ich Martinsh\u00f6rner, nicht eins, sondern viele, sehr viele. Die freiwillige Feuerwehr ist ausger\u00fcckt, um unserem gef\u00e4hrlichen Baum zuleibe zu r\u00fccken. Das erste Feuerwehrauto biegt in unsere Stra\u00dfe ein, es ist ein gro\u00dfer R\u00fcstwagen. Dann kommt der zweite Wagen, ein gro\u00dfer L\u00f6schzug. Ihm folgen der VW-Bus des Kommandanten, der rote Jeep des stellvertretenden Kommandanten und noch ein gro\u00dfer R\u00fcstwagen.
\nSie alle fahren direkt bis an an Baum vor und nach kurzer Zeit tummeln sich da unten 14 Feuerwehrm\u00e4nner. Die Dialoge kann ich nicht wiedergeben, die eingeborenen Freiwilligen sind unter sich und ihr Kauderwelsch klingt f\u00fcr mich dann immer wie „Haschu, Muschu, Kannschu“.<\/p>\n

Auf jeden Fall scheinen sie zu beschlie\u00dfen, dass man zum Abs\u00e4gen eines gef\u00e4hrlich in 12 Meter H\u00f6he querh\u00e4ngenden Baumes wohl am Allerbesten eine Leiter nimmt. Zwar haben sie oben auf den R\u00fcstwagen jeweils gleich mehrere davon, aber es w\u00e4re doch viel zu schade, w\u00fcrde man bei einem derartigen Gro\u00dfeinsatz nicht die sch\u00f6ne neue gro\u00dfe Drehleiter herbeirufen.
\nDas meinen auch die Umstehenden. Die Menge der Gaffer ist inzwischen auf \u00fcber Hundert angewachsen und ich nehme an, dass Richterin Salesch an diesem Mittag eine Einschaltquote von unter 0 Prozent zu verzeichnen hat.<\/p>\n

Vor allem die \u00e4lteren M\u00e4nner wissen alle ganz genau, wie man dem Baum am Besten beikommen k\u00f6nnte und ich h\u00f6re W\u00f6rter wie „Wegsprengen“, „Runnerziehen“, „nach hinne dr\u00fccke“. Jeder wei\u00df was und jeder wei\u00df es besser. Dar\u00fcber geraten einige der Rentner in Streit und es droht in einen b\u00fcrgerkriegs\u00e4hnlichen Zustand umzuschlagen. Gerade bevor sie sich mit Mistgabeln und Dreschflegeln bewaffnen k\u00f6nnen, h\u00f6rt man aber das durchdringende Martinshorn der gro\u00dfen Drehleiter.<\/p>\n

Majest\u00e4tisch biegt das gro\u00dfe Fahrzeug in unsere Stra\u00dfe. Ja, so muss eine sch\u00f6ne, neue, gro\u00dfe Drehleiter aussehen, die auch von meinen Steuergeldern bezahlt worden ist!
\nLangsam n\u00e4hert sie sich dem Ort des Geschehens. Zu viel Eile w\u00e4re auch unangebracht, denn dann best\u00fcnde die Gefahr das einige der auf die Stra\u00dfe springenden Rentner \u00fcberfahren w\u00fcrden.
\nSie wollen dem Fahrer sagen, wo er genau hinfahren muss und vermutlich noch ganz genau erkl\u00e4ren, in welchem Winkel und auf welche H\u00f6he er die Leiter ausfahren muss.<\/p>\n

Dadurch wird der Fahrer etwas abgelenkt und es kommt, wie es kommen muss, er streift mit seinem niegelnagelneuen Drehleiterauto ausgerechnet meinen VW-Bus und rei\u00dft den Au\u00dfenspiegel ab.<\/p>\n

„Schei\u00dfe!“, denke ich.<\/p>\n

Das Folgende geschieht recht z\u00fcgig. Die Wehrm\u00e4nner fahren die Leiter aus und einer klettert mit einer Kettens\u00e4ge hinauf. Gl\u00fccklicherweise hat er solche Geh\u00f6rschutzkopfh\u00f6rer auf, weshalb er die gebr\u00fcllten Anweisungen der Rentner nicht h\u00f6ren kann. Mal rufen sie ‚links‘, mal ‚rechts‘, mal ’nuff‘, mal ’nunner‘. Doch er bekommt davon nichts mit und ruckzuck hat er den Baum fachm\u00e4nnisch mit der Kettens\u00e4ge zerteilt und die St\u00fccke donnern auf den mittlerweile abgesperrten Parkplatz.
\nKeiner der Rentner wird erschlagen, schade!<\/p>\n

Nach und nach r\u00fccken die roten Wagen wieder ab und die Rentner verlieren ihr Interesse an jeglicher Form von B\u00fcrgerkrieg und Feuerwehreinsatz. Drinnen f\u00e4ngt ja auch bald Richter Hold an und es wird langsam Zeit.<\/p>\n

Was bleibt ist mein abgerissener Au\u00dfenspiegel.<\/p>\n

Das Fazit: H\u00e4tte die Allerliebste die Feuerwehr nicht gerufen, w\u00e4re ein Dutzend nerviger Alter erschlagen, zermalmt und zerquetscht worden, mein Auto w\u00e4re heilgeblieben und wir h\u00e4tten einen ganzen Nachmittag Spa\u00df haben k\u00f6nnen.<\/p>\n

Wer ist also mal wieder Schuld?<\/p>\n

So, jetzt muss ich mal mit der Gemeinde telefonieren, wer mir meinen Spiegel ersetzt.<\/p>\n

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\u00a9 25.10.2006<\/p>\n

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