{"id":1598,"date":"2007-02-15T17:18:19","date_gmt":"2007-02-15T16:18:19","guid":{"rendered":"http:\/\/dreibeinblog.de\/in-vino-veritas\/"},"modified":"2012-11-26T20:12:48","modified_gmt":"2012-11-26T20:12:48","slug":"in-vino-veritas","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/dreibeinblog.de\/in-vino-veritas\/","title":{"rendered":"In vino veritas"},"content":{"rendered":"

Mein Freund Peter und seine Frau Geraldine haben uns eingeladen, einen sch\u00f6nen Abend mit ihnen zu verbringen und eine Nacht dort zu \u00fcbernachten. Er ist Fotograf, also K\u00fcnstler und so ein K\u00fcnstler trinkt nat\u00fcrlich kein Bier, das w\u00e4re viel zu profan, sondern er trinkt Wein, genauer gesagt Rotwein.<\/p>\n

\u201eM\u00f6chten Sie auch ein Glas leckeren Rotwein?\u201c, fragt er die Allerliebste und mich. Anke trinkt ja bekannterma\u00dfen viel lieber Bier und es ist mir schleierhaft, wie sie es schafft immer und \u00fcberall ihr geliebtes Bier zu bekommen, ohne da\u00df es anst\u00f6\u00dfig oder unpassend wirkt. Ich erinnere mich an einen Fall, da mu\u00dfte unser Gastgeber sp\u00e4tabends im str\u00f6menden Regen noch zur Trinkhalle an der Ecke laufen, um f\u00fcr Anke Flaschenbier zu kaufen. Sie stand so souver\u00e4n \u00fcber der Sache, da\u00df ich absolut verwundert war, da\u00df wir sp\u00e4ter sogar wieder dort eingeladen wurden.
\n
\nPeter und Geraldine trinken zwar normalerweise auch kein Bier, haben aber vorsichtshalber welches im Haus. Gerade will ich sagen, da\u00df ich auch lieber ein Bier h\u00e4tte, da stellt mir Peter schon ein \u00fcberdimensionales Glas mit Rotwein hin. Solche Gl\u00e4ser hatte meine Mutter fr\u00fcher als Blumenvasen.<\/p>\n

\u201eDen m\u00fcssen sie probieren!\u201c<\/p>\n

Mit mir und dem Rotwein ist es aber so, da\u00df ich mich geschmacklich in eine andere Richtung entwickelt habe, als die Winzer es f\u00fcr ihre Kunden vorschreiben.<\/p>\n

Seit jeher galt es als gro\u00dfe Kunst des Weinanbaus, s\u00fc\u00dfe und aromatische Weine zu erzeugen. Schon die R\u00f6mer wu\u00dften das und liebten es, Speisen mit Honig und s\u00fc\u00dfen Weinen zu w\u00fcrzen. Vor Jahren beschlossen die Winzergenossenschaften, ihren Kunden nur noch saure Weine anzubieten. Herb oder trocken nennen sie ihre Produkte. Und da man lang genug in diversen Weinzeitschriften auf die Kundschaft einpredigte, glauben nun offensichtlich alle Menschen au\u00dfer mir, da\u00df saure Weine besonders gut sind.<\/p>\n

Peter und Geraldine m\u00f6gen trockene Weine, meinetwegen. Ich h\u00e4tte lieber einen Lieblichen.<\/p>\n

\u201eAch was! Ich werde ihnen die besten Tropfen kredenzen und sie werden sehen, wie gut herbe Weine sind\u201c, sagt Peter und entkorkt eine teuer aussehende Flasche.<\/p>\n

\u201eVor der Zunge schmeckt er leicht nach Rosinen und auf der Zunge nach Himbeeren. Im Abgang hat er ein erdiges Schokoladenaroma\u201c, sagt er leicht schmatzend und offensichtlich schmeckt ihm der Wein. \u201eProbieren sie, probieren sie\u201c, fordert er mich auf und schenkt mir ein. Der Wein ist sauer, nur sauer, sonst nichts. Ich versuche es ihm nachzutun und schmatze ein wenig. Vielleicht offenbart sich ja auch mir der unvergleichliche Geschmack nach Rosinen, Himbeeren und Schokolade, wenn ich mir nur M\u00fche gebe. Nach dem Schmatzen schlucke ich den Wein hinunter, auch im Hals bleibt er sauer.<\/p>\n

\u201eUnd?\u201c, fragt mich Peter gespannt.<\/p>\n

\u201eIch schmecke nur Rotwein, sonst nichts\u201c, sage ich wahrheitsgem\u00e4\u00df.<\/p>\n

\u201eHaben sie ihn neben die Zunge gebracht?\u201c, erkundigt er sich.<\/p>\n

\u201eNein, ich wu\u00dfte nicht, da\u00df man das machen mu\u00df.\u201c<\/p>\n

\u201eDann probieren sie mal den hier\u201c, sagt er und \u00f6ffnet eine weitere Flasche, \u201eder schmeckt zuerst ganz intensiv nach Johannisbeere mit einem leichten Vanillearoma, dann kommt der schwere Traubengeschmack und im Abgang setzt sich ein kr\u00e4ftiges Nu\u00dfaroma mit einem leichten Anflug von Mandel durch.\u201c<\/p>\n

Gerade will ich trinken, da erinnert mich Peter daran, ja nicht zu vergessen, den Wein auch neben die Zunge zu nehmen. \u201eZiehen sie ordentlich Luft links neben die Zunge, den Wein nach rechts und dann mit der Zunge mischen!\u201c<\/p>\n

Es gelingt mir nur mit M\u00fche, den Wein nicht aus den Mundwinkeln laufen zu lassen, ich schmatze und schl\u00fcrfe, aber so sehr ich mich auch bem\u00fche, ich bekomme ihn nicht neben die Zunge. Immer will er entweder unter die Zunge oder die Kehle hinab.<\/p>\n

\u201eIch kann das nicht\u201c, sage ich und mache ein betretenes Gesicht.<\/p>\n

Geraldine kommt ihrem Mann zur Hilfe: \u201eVielleicht sollten sie probieren, die Zunge nach hinten zu rollen, bis ganz an das Z\u00e4pfchen.\u201c<\/p>\n

Peter schenkt mir einen weiteren seiner erlesenen Tropfen ein: \u201eSo, jetzt aber, der schmeckt nach Pfirsich und hinterher leicht nach Aprikose.\u201c<\/p>\n

Verzweifelt versuche ich den Wein neben die Zunge zu bekommen und diese dabei weit nach hinten zu rollen. Als Ergebnis habe ich einen W\u00fcrgereiz und verschlucke mich an dem sauren Wein. Nachdem ich mich wieder etwas erholt habe, frage ich ganz vorsichtig an: \u201eBesteht denn nicht die M\u00f6glichkeit, da\u00df ich einfach nur ein Glas Wasser bekomme?\u201c<\/p>\n

\u201eAch was\u201c, sagt Peter, \u201ewir werden doch noch einen Wein finden, der ihnen schmeckt.\u201c<\/p>\n

Geraldine macht ein bedr\u00fccktes Gesicht und zuckt nur mit den Achseln. Ihr Mann durchsucht schon eine ganze Weile das s\u00fcndhaft teure Weinregal aus der Provence und sagt dann mit einem entt\u00e4uschten Unterton: \u201eEs tut mir leid, aber ich habe nur noch eine Flasche ganz billigen Wein aus dem Supermarkt an der Ecke, den wollten wir mal zum Kochen nehmen, den kann ich ihnen unm\u00f6glich anbieten.\u201c<\/p>\n

\u201eDoch, schenken sie ein\u201c, fordere ich ihn auf. Insgeheim hoffe ich darauf, da\u00df es dieses Mal ein lieblicher Tropfen ist. Und tats\u00e4chlich, als ich den Billigwein aus dem Supermarkt probiere, perlt mir ein frischer, aromatischer und keineswegs saurer Wein die Kehle hinunter. Er schmeckt herrlich!<\/p>\n

Als ich das unseren Gastgebern sage, blicke ich in ungl\u00e4ubige Gesichter.<\/p>\n

\u201eDer hat doch nur 1,99 gekostet\u201c, ist das Einzige was Peter dazu sagen kann, seine Frau sch\u00fcttelt stumm den Kopf.<\/p>\n

\u201eKommen sie\u201c, fordere ich die beiden auf, \u201eprobieren sie mal einen Schluck, der schmeckt wirklich gut.<\/p>\n

Mit spitzen Fingern, so als ob er einen Schluck aus der Bettflasche des Gro\u00dfvaters nehmen m\u00fc\u00dfte, nimmt Peter das Glas, nippt einmal kurz daran und verzieht das Gesicht: \u201ePfui, ist der s\u00fc\u00df!\u201c<\/p>\n

\u201eNein, den k\u00f6nnen wir ihnen dann wirklich nicht anbieten\u201c, sagt Geraldine und will mir die Flasche wegnehmen. Nach einem Abend, an dem ich etwa ein halbes Dutzend teure Essigweine probieren mu\u00dfte, will ich mir aber den ersten trinkbaren Wein nicht kampflos nehmen lassen und stehe auf. Vielleicht kann ich sie durch blo\u00dfe Demonstration meiner K\u00f6rpergr\u00f6\u00dfe davon abhalten, mich meines lieblichen Trunkes zu berauben.<\/p>\n

Doch Peter dr\u00fcckt mich auf den Stuhl zur\u00fcck und hindert mich daran, Geraldine mit einem Hechtsprung zu folgen, als sie meinen leckeren Wein in die K\u00fcche tr\u00e4gt.<\/p>\n

\u201eBitte\u201c, flehe ich, \u201elassen sie mir doch den Wein, der schmeckt mir wirklich gut.\u201c<\/p>\n

\u201eGew\u00fcrztraminer!\u201c, kr\u00e4ht Peter und Sekunden sp\u00e4ter ploppt der Korken aus der Flasche. Der Wein schmeckt nach Maggi, finde ich und sch\u00fcttele mich angewidert.<\/p>\n

\u201eSanct Claqueur de Bouvier!\u201c<\/p>\n

Plopp!<\/p>\n

Sauer und bitter.<\/p>\n

\u201eCharmeur de Closett! Ein 78er!\u201c<\/p>\n

Plopp!<\/p>\n

Sauer, sehr sauer!<\/p>\n

\u201eRadon de Migraen!\u201c<\/p>\n

Plopp!<\/p>\n

Bitter, korkig, sauer, es sch\u00fcttelt mich.<\/p>\n

Langsam beginnt der Wein seine Wirkung zu entfalten, denn auch wenn es hier aufgeschrieben so aussieht, als ob die teuren Flaschen in rascher Folge aufploppen, ist es doch so, da\u00df ich nat\u00fcrlich jeden Tropfen links neben die Zunge bekommen mu\u00df und es nicht vermeiden kann, etliches davon zu schlucken.<\/p>\n

Anke m\u00fcmmelt unterdessen an ihrem Bier und am\u00fcsiert sich ganz offensichtlich dar\u00fcber, da\u00df ich absolut wehrlos einer Kampforgie aus franz\u00f6sischen Weinen ausgesetzt bin.<\/p>\n

Doch allm\u00e4hlich kann ich keinen meiner Sinne mehr koordinieren und \u00e4u\u00dfere unter Aufbietung aller Kraft, nur um ja nicht zu lallen, den Wunsch, mich zur\u00fcckziehen zu d\u00fcrfen.<\/p>\n

Da es schon sp\u00e4t geworden ist, hat man allgemein nichts gegen meinen Wunsch einzuwenden.<\/p>\n

Es f\u00e4llt mir etwas schwer, die Treppe zum G\u00e4stezimmer zu bew\u00e4ltigen, warum sind die Treppen in solchen H\u00e4usern auch immer so schief und wackelig?<\/p>\n

Ich falle schnell in einen unruhigen Schlaf. In der Nacht tr\u00e4ume ich, da\u00df Geraldine in unser Zimmer kommt. Was h\u00e4lt sie hinter ihrem R\u00fccken verborgen? Sie tr\u00e4gt ein langes wei\u00dfes Gewand und l\u00e4chelt. Sie sieht aus, wie eine wundersch\u00f6ne keltische Priesterin. Langsam n\u00e4hert sie sich meinem Bett. Ich will mich leicht aufrichten, doch sie dr\u00fcckt mich zur\u00fcck auf die Matratze, dann \u2013in meinem Traum- sitzt sie auf einmal auf meiner Brust. Ich will mich gerade \u00fcber die willkommene Abwechslung in meinen sonst eher langweiligen Tr\u00e4umen freuen, da bemerke ich, da\u00df sie mich festh\u00e4lt und zwar mit beiden H\u00e4nden. Mit der dritten Hand holt sie etwas hinter ihrem R\u00fccken hervor. Es ist ein riesengro\u00dfer Trichter! Sie h\u00e4lt ihn \u00fcber meinen Mund und im gleichen Moment ist auch schon Peter da. Er lacht ein diabolisches Lachen, mit Echo-Hall-Effekt! Im gleichen Moment hat er zwei Flaschen Rotwein in den H\u00e4nden und gie\u00dft diese durch den Trichter in meinen Mund. Sind das da H\u00f6rner auf seinem Kopf?<\/p>\n

Ich will aufspringen, doch das geht nicht, die Frau ist viel zu schwer und au\u00dferdem hat Peter sein Knie auf meine Brust gest\u00fctzt und sch\u00fcttet noch eine Flasche Wein in den Trichter. Immer wieder lachen beide ihr satanisches Rotwein-Lachen und ich will schreien. Doch ich mu\u00df schlucken, sauren roten Wein schlucken und kann nicht schreien.<\/p>\n

\u201eTrinken Sie, den m\u00fcssen sie probieren\u201c, ruft Peter und mir gelingt es: \u201eGnade! Gnade!\u201c zu rufen.<\/p>\n

Jemand r\u00fcttelt mich an meiner Schulter, es ist Anke, die neben mir im Bett liegt. Peter und Geraldine sind auf einmal verschwunden.<\/p>\n

\u201eSchatz, was hast du blo\u00df getr\u00e4umt?\u201c, fragt die Allerliebste, \u201eDu bist ja na\u00dfgeschwitzt.\u201c<\/p>\n

Leicht verwirrt schaue ich mich im G\u00e4stezimmer um, es ist wirklich niemand mehr da. Obwohl mein Herz heftig klopft, schlafe ich schnell wieder ein.<\/p>\n

Am n\u00e4chsten Morgen steht unsere Abreise bevor. Neben einigen Freundschaftsgeschenken, packen uns Geraldine und Peter auch die angebrochene Flasche des leckeren Billigweins ein. Zu Anke gewandt meint Peter: \u201eWenn sie mal was mit Rotwein kochen wollen\u2026\u201c<\/p>\n

So kommt es, da\u00df ich heute hier an meiner Schreibmaschine sitze, diese Geschichte schreiben kann und dabei einen der leckersten Weine der Welt trinken kann. F\u00fcr 1,99!<\/p>\n

Man mu\u00df wissen, da\u00df Peter und ich uns siezen. Wir kennen uns zwar schon \u00fcber zehn Jahre, sind aber wegen der gleichen Vornamen und weil wir es etwas Besonderes finden, immer beim Sie geblieben.<\/p>\n

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Mein Freund Peter und seine Frau Geraldine haben uns eingeladen, einen sch\u00f6nen Abend mit ihnen zu verbringen und eine Nacht dort zu \u00fcbernachten. Er ist Fotograf, also K\u00fcnstler und so<\/p>\n

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