{"id":1172,"date":"2013-01-18T12:12:25","date_gmt":"2013-01-18T11:12:25","guid":{"rendered":"http:\/\/dreibeinblog.de\/in-naher-zukunft\/"},"modified":"2013-01-18T12:34:14","modified_gmt":"2013-01-18T11:34:14","slug":"in-naher-zukunft","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/dreibeinblog.de\/in-naher-zukunft\/","title":{"rendered":"In naher Zukunft"},"content":{"rendered":"

Ehrfurchtsvoll schauen sich Jonas und Ella an. Wie lange hatten sie gespart, um sich diese Reise leisten zu k\u00f6nnen und nun ist es wahr geworden, sie stehen vor dem Denkmal des gro\u00dfen Vordenkers. „Lass es uns tun!“, sagt Jonas mit gesenkter Stimme und Ella schaut sich in einer Mischung aus gespieltem Entsetzen und freudiger Erwartung um, als sie fragt: „Hier? Jetzt?“
\nJonas nickt heftig und zieht Ella ein kleines St\u00fcckchen beiseite, damit andere Leute, die auch schon lange in der Warteschlange standen, endlich an das Denkmal vorr\u00fccken k\u00f6nnen. W\u00e4hrend Jonas und Ella hinter einer nahegelegenen Plakats\u00e4ule verschwinden, k\u00fc\u00dft eine alte Frau den Sockel des Denkmals und ein \u00e4lterer Herr schn\u00e4uzt verstohlen ein paar Tr\u00e4nen in sein Taschentuch.<\/p>\n

„Komm“, sagt Jonas und streckt Ella seine Handfl\u00e4che hin; Ella folgt ihm und streckt ebenfalls die Handfl\u00e4che ihrer Rechten aus. So n\u00e4hern sie sich einander, bis ihre H\u00e4nde sich ber\u00fchren. Ein Gef\u00fchl der Gl\u00fcckseligkeit durchstr\u00f6mt beide, w\u00e4hrend die Datenchips in ihren Handfl\u00e4chen kurz aufleuchten. Jonas st\u00f6hnt leise auf, als der Datenfluss beginnt und Ella schlie\u00dft die Augen. Etwa drei Minuten verharren sie so, dann zieht sie ihre Hand weg. Jonas seufzt entt\u00e4uscht, doch Ella sagt: „Du wei\u00dft, da\u00df wir es nicht viel l\u00e4nger tun k\u00f6nnen, nicht hier!“<\/p>\n

Jonas nickt und macht ein verdrie\u00dfliches Gesicht. Er wei\u00df, da\u00df der Datenfluss als einzige Form der k\u00f6rperlichen N\u00e4he zwischen verpartnerten Personen unterschiedlichen Geschlechts nur in der eigenen Wohnung oder in separat ausgewiesenen Datenfluss-Zonen in Internetcaf\u00e9s stattfinden darf. Ella hat Recht, mehr als drei Minuten w\u00fcrden die von der Ordnungswacht bemerken, auf ihren Chips aufzeichnen und am Ende des Monats m\u00fc\u00dfte man dann wieder dem Datenwart in der Wohnsiedlung Rede und Antwort stehen m\u00fcssen.
\n
\nOlaf, ein Freund von Jonas hatte es erst letzten Monat zum wiederholten Male zu weit getrieben. Der ernsthaften Belehrung durch den Datenwart, nach dem erstem Mal, folgte eine saftige Geldbu\u00dfe, die mit der Mobilfunkrechnung eingezogen wurde und schon beim zweiten Mal wurde Olafs Wohnung von der Ordnungswacht durchsucht, sein PC beschlagnahmt und das Mobiltelefon eingezogen.<\/p>\n

Dabei hatte Olaf noch Gl\u00fcck gehabt, nach 14 Tagen bekam er seine Sachen unter Vorbehalt zur\u00fcck. Millionen andere Menschen m\u00fcssen schon seit Jahren ohne Zugang zum Internet und ohne Mobiltelefon auskommen. Sie alle sind beim RGV, dem Register f\u00fcr Gef\u00e4hrder und Verschw\u00f6rer, gemeldet und beziehen minimale staatliche Unterst\u00fctzung in Form von Lebensmittelmarken.<\/p>\n

Bargeld gibt es schon seit Jahren nicht mehr und Jonas weinte dem auch keine Tr\u00e4ne nach. Alles wird heute bargeldlos \u00fcber den Sensorchip in der Handinnenfl\u00e4che abgewickelt. Hat man sich erst einmal an die heftigen Stromst\u00f6\u00dfe gew\u00f6hnt, die einem zugesetzt werden, will man ohne ausreichendes Guthaben auf diese Weise bezahlen, ist das Handauflegen auf die Kassenterminals eine \u00e4u\u00dferst praktische Sache.
\nIn Sekundenschnelle werden Informationen \u00fcber alle eingekauften Waren direkt an den Zentralrechner der Ordnungswacht \u00fcbermittelt und der Kaufbetrag vom Konto abgebucht. Das geht heute viel schneller als noch vor zwei Jahren. Damals wurde immer noch der Standort mit ausgelesen, was ja seit geraumer Zeit nicht mehr notwendig ist, als in jede Stra\u00dfenlaterne ein entsprechendes Meldemodul eingebaut wurde.<\/p>\n

„Lass uns noch mal r\u00fcbergehen“, unterbricht Ella Jonas‘ Gedanken und deutet auf das Denkmal dr\u00fcben auf dem Vorplatz des Berliner Reichtags. Jonas checkt die Lage und sagt: „Da m\u00fcssten wir uns wieder zwei Stunden in die Schlange stellen.“
\n„Aber ich will sein Denkmal nochmals anfassen“, quengelt Ella und f\u00fcgt hinzu: „Dort ist es so friedlich und ordentlich.“<\/p>\n

„Naja“, sagt Jonas und deutet hin\u00fcber zum Denkmal, wo zwei schwarzuniformierte Ordnungsw\u00e4chter die beiden alten Leute mit Elektroschockern weitertreiben, weil sie zu lange vor dem Denkmal verharrt hatten.<\/p>\n

„Und?“, ereifert sich Ella: „Die sind doch selbst Schuld. Auch die m\u00fcssten wissen, da\u00df man sich unter freiem Himmel nirgendwo l\u00e4nger als drei Minuten ohne Standortwechsel aufhalten darf. Sonst verst\u00f6\u00dft man gegen das Versammlungsverbot.“<\/p>\n

„Dann lass uns weitergehen, sonst sind auch wir dran“, sagt Jonas und zieht Ella am \u00c4rmel ihrer Jacke mit sich. „Wir k\u00f6nnen ja heute Abend nochmal herkommen, dann ist es vielleicht nicht so voll.“<\/p>\n

„Gut“, stimmt ihm Ella zu und schl\u00e4gt vor: „Wir k\u00f6nnten einen Kaffee trinken gehen.“<\/p>\n

Jonas sch\u00fcttelt den Kopf: „Ich hatte heute schon meinen Kaffee und du wei\u00dft, da\u00df s\u00e4mtliche Drogen verboten sind und wir nur eine einzige Tasse Kaffee konsumieren d\u00fcrfen..“<\/p>\n

„Gut, dann setzen wir uns nur ein bi\u00dfchen hinein und trinken Wasser.“<\/p>\n

Die Idee gef\u00e4llt Jonas schon besser, au\u00dferdem wird es langsam Zeit, da\u00df er seine Mails abruft. Das muss er alle 3 Stunden machen, sonst gibt es einen Ordnungspunkt und bald eine h\u00e4\u00dfliche Mail von der Ordnungswacht. Jeder B\u00fcrger ist verpflichtet, alle drei Stunden mit dem Mobiltelefon die Mails abzurufen und umgehend zu beantworten. Gerichtsbeschl\u00fcsse werden ja ohne jegliche Verhandlung direkt per Mail zugestellt und da w\u00e4re es fatal, wenn man die 30min\u00fctige Widerspruchsfrist vers\u00e4umen w\u00fcrde. Gl\u00fccklicherweise gibt es kaum noch SPAM. Seit Spammer als Datenterroristen gelten und ohne Vorwarnung von der Ordnungswacht erschossen werden k\u00f6nnen, hat der Versand von Spam-Mails rapide abgenommen.<\/p>\n

\u00dcberhaupt ist die neue Ordnung ganz im Sinne von Jonas und Ella. Sie geh\u00f6ren schon zur zweiten Generation, die unter der „Grossen Ordnung“ aufgewachsen ist und die mit dem Sensorchip in der Handfl\u00e4che geboren wurden. Noch kurz vor ihrer Geburt mussten die Chips m\u00fchsam jedem B\u00fcrger eingepflanzt werden. Erst gab es Ausweiskarten mit eingebautem Chip, dann Chips in alle m\u00f6glichen Ger\u00e4ten und der Bekleidung und seit einiger Zeit die aus biosynthetischem Material bestehenden Gen-Chips.
\nDen alten Menschen hat man die Erinnerungen an Zeiten vor der „Grossen Ordnung“ noch einzeln herausbrennen m\u00fcssen, Jonas und Ella haben keine solchen Erinnerungen mehr und wollen davon auch nichts wissen.<\/p>\n

Jonas ist 18 Jahre alt, Ella ein Jahr j\u00fcnger. Damit befinden sie sich in ihrer sogenannten produktiven Phase, die mit 15 beginnt und bis zum 85. Lebensjahr dauert. Danach folgt eine f\u00fcnfj\u00e4hrige Ruhestandsphase, bevor man, wie es heute heisst, sich zu ewigen Ruhe legen darf.<\/p>\n

Diese Zeit, bis zu der es noch sehr lang ist, wollen Ella und Jonas mit Musikh\u00f6ren und dem Lesen von E-Books verbringen, was f\u00fcr j\u00fcngere Menschen streng verboten ist.
\nJonas arbeitet als Blogger. Er schreibt f\u00fcr eine Werbefirma t\u00e4glich einige Weblogartikel \u00fcber das Tagesgeschehen. Die Texte entnimmt er, wie viele Tausend andere Blogger auch, von der Seite des GGB, des gro\u00dfen gleichgeschalteten Bloggers, der als gro\u00dfer Vordenker in der Szene gilt.
\nElla macht seit letztem Jahr, also 2025, eine Ausbildung zur Bedenkentr\u00e4gerin, ein sehr moderner und vielversprechender Beruf. An der SPD-nahen „Ja-Aber-Universit\u00e4t“ hat sie den ersten Studiengang belegt, der sie letztlich bef\u00e4higen wird, die vorgegeben Oppositionsworth\u00fclsen zu verarbeiten. Zwar gibt es l\u00e4ngst keine SPD mehr, geschweige denn eine wirkliche Opposition, aber man hat festgestellt, da\u00df das Volk zufriedener ist, wenn wenigstens in den Nachrichtensendungen der Eindruck erweckt wird, als g\u00e4be es auch kritische Stimmen.<\/p>\n

Inzwischen sind Ella und Jonas am Internetcaf\u00e9 angekommen, bestellen sich ihr Wasser und surfen ein wenig auf einigen der 1.200 frei zug\u00e4nglichen Seiten, die die Regierung genehmigt hat. Jonas hat einmal Ger\u00fcchte geh\u00f6rt, das world-wide-web sei in Wirklichkeit viel gr\u00f6\u00dfer, aber das ist f\u00fcr ihn ebenso unglaubw\u00fcrdig wie die Behauptung fr\u00fcher habe niemand einmal monatlich zur Gehirnw\u00e4sche gemusst.<\/p>\n

jemand klopft von drau\u00dfen an die Scheibe des Internetcaf\u00e9s. Es ist Franko, einer von Ellas Studienkollegen. Er kommt hinein, was Ella eigentlich gar nicht so recht ist. Frankos Eltern haben ihm diesen unm\u00f6glichen Namen gegeben, der wie ein fremdl\u00e4ndischer Name klingt. Seit es keine Ausl\u00e4nder mehr im Bereich der „Grossen Ordnung“ gibt, sind auch solche Namen selten geworden. Franko behauptet ja, es g\u00e4be eine gro\u00dfe Zone, dicht bev\u00f6lkert mit Ausl\u00e4ndern, drau\u00dfen vor den Toren der Gemeinschaft, wo das produzierende Gewerbe ist, aber das k\u00f6nnen Ella und Jonas nicht glauben. Sie halten das f\u00fcr pseudoreligi\u00f6ses Gerede und lachen \u00fcber solche Geschichten.<\/p>\n

„Und, was macht ihr hier in Berlin?“, erkundigt sich Franko, der hier seine Eltern besucht.<\/p>\n

Jonas strahlt: „Wir waren am Sch\u00e4uble-Denkmal!“<\/p>\n

(reloaded 2007)<\/p>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

Ehrfurchtsvoll schauen sich Jonas und Ella an. Wie lange hatten sie gespart, um sich diese Reise leisten zu k\u00f6nnen und nun ist es wahr geworden, sie stehen vor dem Denkmal<\/p>\n

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