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Gut informiert?

frau ruckdäschl

Letzte Tage ist Boris Jelzin gestorben. Möge er in Frieden ruhen.
Obwohl ich ansonsten ganz gut informiert bin, habe ich gar nicht gewusst, daß der noch lebt.

Hier im Dorf kann sowas nicht passieren. An manchen Straßenecken stehen nämlich schwarze Tafeln, da hängt der Büttel die Sterbezettelchen hin. Da steht drauf, wer gestorben ist, von wann bis wann er gelebt hat und wann die Beerdigung stattfindet.

Aber so sagt das hier keiner. „Der Pfläumles Kurt hängt aus“, so wird das hier gesagt.

Es gehört zur festen Aufgabe jedes Rentners, daß man wenigstens zwei Mal am Tag an einem dieser schwarzen Bretter vorbei läuft, es kann nämlich sein, daß der Büttel die Zettel morgens aufhängt oder erst am Nachmittag. Die weißen Zettel an dem schwarzen Brett haben auf Rentner die gleiche Wirkung wie ein Marmeladenbrot auf Stubenfliegen. Diese Lockwirkung war allerdings für Wochen aus dem Gefüge geraten, weil irgendwelche Kinder auf alle schwarzen Bretter weiße Zettel mit der Aufschrift „Tokio Hotel“ geklebt hatten. Hilflos standen ganze Horden von Rentnern vor den Tafeln und sahen verwirrt aus.
Frau Ruckdäschl hatte das seinerzeit so kommentiert: „Als wenn wir alten Leut‘ noch nach China in Urlaub fahren!“
Für Frau Ruckdäschl gibt es ja sowieso bloß vier Sorten von Menschen: Chinesen, Neger und Deutsche, alles andere sind Ausländer.


Der Frieden am Dorfanger konnte erst wieder hergestellt werden, als der Büttel mit einem großen Eimer schwarzer Farbe alle Tokio-Hotel-Schilder übermalte. Jetzt konnten die Alten wieder durchatmen und sich täglich über den neuesten Stand informieren.

Danach muß man die „frohe Botschaft“ jedem übermitteln, den man kennt und darf dabei, die die man nicht kennt, natürlich nicht auslassen.

Frau Ruckdäschl, wer hätte das anders gedacht, ist Spezialistin in der Verbreitung von Nachrichten jedweder Art. Ihren Abschluß als Nachrichtenverbreiterin muß sie aber mit Todesnachrichten gemacht haben.

Gestern Nachmittag sehe ich, wie der Büttel einen Zettel ans schwarze Brett hängt. Wenig später tut dieses Marmeladenbrot seine Wirkung und die Ruckdäschl radelt mal eben hin. Danach wendet sie ihr Fahrrad und kommt unsere Straße entlanggefahen. Am ersten Haus stößt sie auf den Zigarettenrentner. Ich weiß gar nicht wie der wirklich heißt, aber wir nennen ihn den Zigarettenrentner, weil an seinem Zaun der einzige Zigarettenautomat weit und breit hängt und er bei jedem Zigarettenkunden aus dem Haus kommt, um ihn anzuquatschen. Theoretisch könnte man sich den Automat auch sparen und der Alte kommt immer gleich mit einem Bauchladen voller Kippen raus.
Jedenfalls bleibt die Ruckdäschl bei ihm stehen und sagt zu ihm:

„Hawwe Sie’s schunn gelese? Der Schneiders Schorsch ist g’schtorwe.“

„Der war ja auch schon alt“, sagt der Zigarettenrentner und fügt hinzu: „krank soll der ja auch gewesen sein.“

Die Ruckdäschl nickt und radelt weiter. Schon am nächsten Haus trifft sie auf den Briefkastenonkel. Den nennen wir so, weil der bei jedem Geräusch auf der Straße herauskommt und mal eben in seinen Briefkasten vorne am Tor schaut. So kaschiert er oberflächlich, daß er sehr neugierig ist.
Die Ruckdäschl sagt:

„Schunn gehört? Der Schneiders Schorsch is an Krebs g’schtorwe.“

Der Briefkastenonkel nickt und sagt: „Ach, isser endlich erlöst, dem sei Frau hat ja lang im Rollstuhl gesesse‘, die is awwa schunn letztes Jahr g’schtorwe.“

Zwei Häuser weiter trifft Frau Ruckdäschl auf Traudel. Traudel bringt immer was in die Mülltonne, wenn sich auf der Straße was tut.

„Traudel, stell dir vor, der Schneiders Schorsch hat seit letztem Jahr tot im Rollstuhl g’sesse, jetzt tun sie ihm beerdische.“

„Der Schorsch soll’s ja an den Beinen gehabt haben. Mein Olaf ruft ja jeden Tag an“, ist alles, was Traudel dazu zu sagen hat.

Ich denke mir meinen Teil, denn ich weiß, daß ihr Sohn Olaf mit seiner Frau und zwei kleinen Kindern in der Stadt in einer kleinen 3-Zimmer-Wohnung wohnt, während Traudel ganz allein ein 7-Zimmer-Haus blockiert. Warum der wohl jeden Tag anruft?

Wenn soviel auf der Straße los ist, muß natürlich auch das Ehepaar Ofenloch von nebenan nach draußen, man könnte ja sonst etwas verpassen. Die Ruckdäschl, beeilt sich herbeizuradeln und noch während das Fahrrad ausrollt, erzählt sie den Ofenlochs:

„Der Schneiders Schorsch hat Krebs in de‘ Füß‘ gehabt. Da sind ihm im Rollstuhl die Beine abgefault und er ist verhungert. Ein Jahr lang hat er tot im Rollstuhl gesesse‘.“

Dann hat die Ruckdäschl ihre Runde beendet, kehrt in ihre Wohnung zurück, vermutlich um nun per Telefon die Geschichte weiter zu verbreiten.

Die Ofenlochs stehen noch eine Weile auf der Straße und diskutieren die große Neuigkeit. Genauergesagt diskutiert Frau Ofenloch, während Herr Ofenloch stumm daneben steht und das tut, was er am Besten kann, er macht ein dummes Gesicht. Jetzt fehlt nur noch Frau Kleiberle von oben. Und weil Frau Kleiberle oben wohnt, begibt sie sich nicht wegen jeder Regung auf der Straße nach unten. Nein, sie geht immer auf den Balkon, lehnt sich ganz weiter über die Brüstung und beteiligt sich auf diese Weise am dörflichen Geschehen.

Frau Ofenloch entdeckt Frau Kleiberle und ruft ihr zu:

„Sie, der Schneiders Schorsch ist ganz grausam geschtorwe. Dem sei‘ Sohn hat nie angerufe‘ und dann hat der Schorsch vor lauter Hunger sei‘ eigene Füß‘ aufgegesse und davon hat er Krebs gekriegt und ist ein Jahr lang geschtorwe!“

Ist ja wirklich schlimm, was dem armen Schneiders Schorsch da widerfahren ist. Später im Kaffeehaus erfahre ich, daß eben jener Georg Schneider erst vor kurzem in unsere Gemeinde gezogen war und einen Platz im örtlichen Altersheim belegt hatte. Dort ist er im gesegneten Alter von 93 Jahren an Altersschwäche gestorben. Der arme Mann, und das alles ohne Füße!

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Lesezeit ca.: 7 Minuten | Tippfehler melden | © Revision: 26. November 2012 | Peter Wilhelm 26. November 2012

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