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Der Schuhlöffel

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Ehrfurchtsvolles Schweigen. Die Alten schauen sich gegenseitig an und werfen sich Blicke zu, die mir signalisieren, daß mal wieder alle -außer mir- Bescheid wissen. Tante Hermelinde seufzt hörbar und Onkel Hans schüttelt bedächtig und vielsagend den Kopf.

Was habe ich nun wieder falsch gemacht?
Ich beginne kurz zu analysieren, was geschehen war und gehe im Kopf die letzten Minuten noch einmal Schritt für Schritt durch. Da man in Tante Hermelindes Wohnung nur auf Socken herumlaufen darf, hatte ich zu Beginn meines Besuches brav meine Schuhe ausgezogen. Das nachmittägliche Kaffeetrinken im Kreise der alten Onkels und Tanten der Allerliebsten war insgesamt reibungslos verlaufen. Außer Tante Hermelinde und Onkel Hans, die miteinander verheiratet sind, waren noch Onkel Hubert und Onkel Herbert (die ich immer verwechsele) und drei Tanten namens Sieglinde, Christa und Lieschen anwesend. Die letzten Fünf sind alle verwitwet.


Meine Allerliebste hatte sich erfolgreich an diesem halbjährlich stattfindenden Kaffeetrinken vorbeigemogelt und sich gaaaaanz wichtige Leute ins Amt bestellt, sodaß ich alleine diese Pflichtstunde absolvieren mußte.
Bei so vielen anwesenden schon oder bald Verwitweten drehte sich natürlich alles nur um das Thema Tod und Friedhof, Krankheit und Arzt, nur kurz unterbrochen von Onkel Hans‘ üblicher Schimpfkanonade auf den Papst. In dem Teil unserer Familie, den die Allerliebste mitgebracht hatte, sind alle evangelisch. Nur Onkel Hans war mal katholisch und ist vor seiner Einheirat in diesen Clan konvertiert. Um zu unterstreichen, wie wichtig und ernst es ihm ist, läßt er keine Gelegenheit (und Ungelegenheit) aus, um lautstark und langanhaltend über den alten Mann auf dem Heiligen Stuhl zu pöbeln, der seiner Meinung nach an Allem die Schuld trägt.

Soweit war also das Kaffeetrinken und Kuchenessen völlig normal verlaufen und ich war mir keiner Schuld bewußt. Nichts hatte es gegeben, was das Mißfallen der Alten hätte wecken können. Doch trotzdem sitzen die jetzt da und schauen mich teils verblüfft, teils verärgert und empört an.

Da die vergangene Stunde keinen Anlaß für ihren Ärger geboten haben konnte, muß die Ursache in meinen Handlungen der letzten Sekunden liegen. Was hatte ich getan?
Ich war aufgestanden, hatte meinen baldigen Abschied angekündigt, war zur Kommode im Flur gegangen, hatte meine Schuhe die davorstanden, nebeneinander gestellt, den Schuhanzieher vom Haken an der Wand genommen und meinen rechten Schuh angezogen. Unmittelbar danach hatte Tante Hermelinde hörbar geseufzt.

Ich betrachte meinen beschuhten rechten Fuß, schaue auf die Onkeltanten, doch es erfolgt keine weitere Reaktion. Dann blicke ich auf den Schuhanzieher in meiner rechten Hand und wieder zu den Tantenonkels und dieses Mal ziehen sie alle gemeinsam die Augenbrauen hoch und Tante Hermelinde seufzt erneut.

Aha! Es muß der Schuhanzieher sein, soviel ist klar. Aber was kann an diesem Schuhanzieher denn besonderes sein? Ich meine, es ist ein ganz normaler Schuhanzieher, ein kleiner, eher etwas häßlicher Schuhanzieher aus gebogenem Blech mit einem Loch am oberen Ende. Ich drehe ich vorsichtig um, vielleicht steht ja etwas auf der Rückseite, aber da ist nichts. Es ist eben ein ganz gewöhnlicher, vielleicht sogar besonders häßlicher Schuhanzieher.

Onkel Hans räuspert sich und ich blicke ihn an, als er langsam und feierlich sagt:

„Das ist der Schuhlöffel des Führers.“

Ungläubig blicke ich mehrmals vom Schuhanzieher in meiner Rechten zu Onkel Hans und in die versammelte Runde. Die Alten nicken und Feierlichkeit ist eingekehrt, als Onkel Hans sich erhebt, zu mir kommt, mir den Schuhanzieher aus der Hand nimmt und sich damit wieder in seinen Sessel setzt.
Fast zärtlich streicht er über das gebogene, und wie gesagt etwas häßliche, kleine Teil und sagt mit gesenkter Stimme:

„Den habe ich 1947 nach meiner Kriegsgefangenschaft einem fahrenden Händler in Venedig abgekauft, es ist der Schuhlöffel des Führers.“

„Du meinst, das ist der Schuhanzieher den Adolf Hitler besessen hat?“

Onkel Hubert, der bisher in Demut und Ergriffenheit geschwiegen hatte, nimmt den Schuhanzieher an sich, hält ihn in Händen wie eine seltene Reliqiue und sagt:

„Der stammt vom Obersalzberg!“

Die versammelten Rentner nicken. Offenbar kennen alle die Geschichte des Schuhanziehers und das macht mich neugierig. Mit einem Schuh an den Füßen humpele ich ins Wohnzimmer zurück und nehme meinen Platz wieder ein.
Das versteht Onkel Hans als Aufforderung, nimmt den Schuhanzieher wieder an sich, denn offenbar darf man dessen Geschichte nur berichten wenn man ihn feierlich in Händen hält, und beginnt zu erzählen:

„Es war 1947, die Engländer hatten mich in Ägypten gefangen gehalten und ich ging im September in Venedig von Bord eines Schiffes. Ich hatte Hunger, hatte Durst und dann begegnete mir dieser italienische Händler. Er muß sofort erkannt haben, daß er in mir einen aufrechten Deutschen vor sich hat, denn er zog mich in eine Seitengasse und zeigte mir diesen Schuhlöffel. Er hatte ihn einem amerikanischen Soldaten abgekauft, der ihn vom Obersalzberg mitgebracht hatte. Ich gab ihm mein ganzes Geld und so gelangte dieses herrliche Stück in unsere Familie.“

„Für die Schuhe benutzen wir den großen da drüben“, fügte Tante Hermelinde mit etwas spitzer Stimme hinzu.

„Und Ihr seid sicher, daß der echt ist?“ melde ich vorsichtige Zweifel an. Die Onkels Hubert und Herbert schmatzen entrüstet auf und lehnen sich kopfschüttelnd zurück. Onkel Hans sagt:

„Mit diesem Schuhlöffel hat sich der Führer immer wenn er auf dem Obersalzberg war, jeden Morgen seine Schuhe angezogen, nichtmals Eva Braun hat ihn benutzen dürfen. Er ist jetzt seit 60 Jahren in Familienbesitz und eines Tages… eines Tages, wenn ich mal nicht mehr bin, dann, ja dann werdet ihr ihn erben!“

Dabei hat Onkel Hans so einen huldvollen Unterton, daß ich nicht wage, ihm zu widersprechen, aber trotzdem kommt mir die ganze Geschichte spanisch vor. Schließlich ist dem Schuhanzieher durch nichts anzusehen, daß er einmal dem ehemals österreichischen Möchtegernkunstmaler gehört haben könnte.

„Darf ich ihn noch einmal haben?“ frage ich und Onkel Hans überreicht ihn mir mit einer Geste, als gäbe er mir die Gebeine Jesu Christi und sagt dazu: „Aber bitte sei vorsichtig!“

Ich setze meine Lesebrille auf, die mir besonders gutes Sehen vor allem im Nahbereich ermöglicht, und schaue mir den Schuhanzieher näher an. Es ist ein kleines bißchen Flugrost auf der Rückseite und ich reibe daran.

Tante Hermelinde will etwas sagen, doch ich komme ihr zuvor: „Rost vom Obersalzberg?“

Die gesamte Rentnerschaft nickt, was mich aber nicht davon abhält, weiter am Rost zu kratzen und tatsächlich gelingt es mir, einen ganzen Placken Rost zu lösen und bei näherer Betrachtung entdecke ich ein paar eingeprägte Buchstaben auf der Rückseite. Dort steht:

Figlio, Roma/italia

Mir wird schlagartig klar, daß ich soeben den heiligen Führerschuhlöffel als ganz gewöhnliches italienisches Massenprodukt entlarvt habe. Ich schwanke und wanke und überlege, ob ich mir den häßlichen Spaß machen soll, die ergriffenen Alten mit dem bloßgestellten Schwindelstück zu konfrontieren oder ob ich in Anbetracht der Möglichkeit, von einem oder mehreren der Alten etwas zu erben, besser schweige.

Wir haben genug zu essen, ich verdiene genug und wahrscheinlich würden wir von Onkel Hans sowieso nur den Schuhanzieher Adolf Hitlers erben, deshalb fällt meine Wahl auf den entlarvenden Spaß. Langsam drehe ich den Schuhlöffel um, sodaß alle die kleine, aber jetzt sichtbare Schrift sehen können und sage:

„Da steht aber Figlio, Roma/Italia drauf!“

Ha! Jetzt habe ich ihn als Fälschung entlarvt und ich muß grinsen ob der Vorstellung, daß für die volksdeutschverliebten Alten jetzt eine Welt zusammenbrechen muß.

Tante Hermelinde ergreift die Hände ihres neben ihr sitzenden Gatten, die Onkels Hubert und Herbert falten, wie abgesprochen, ihre faltigen Hände und Sieglinde, Christa und Lieschen schlagen ihre Hände vor ihre Gesichter.

Minuten des entsetzten Schweigens vergehen. Onkel Hans faßt sich als Erster, schaut feierlich in die Runde und fragt:

„Wißt Ihr, was das bedeutet?“

Die anderen nicken ehrfurchtsvoll und Tante Sieglinde fragt:

„Du meinst wirklich?“

„Ja“, sagt Onkel Hans, „endlich ist der Beweis erbracht, daß das wirklich der Schuhlöffel des Führers ist, damit sind auch letzte Zweifel beseitigt.“

Ich protestiere und sage:

„Aber da steht doch Figlio, Roma/Italia drauf!“

„Ja“, sagt Onkel Hans strahlend und hat Tränen in den Augen als er fortfährt:

„Er hat ihn von Mussolini geschenkt bekommen!“

„Der Duce“, flüstern die Rentner im Chor.

„Ja dann“, sage ich und gebe Onkel Hans sein wertvolles Heiligtum zurück.

Mit dem längeren, hölzernen Alltagsschuhanzieher von Tante Hermelinde ziehe ich meinen linken Schuh an und verabschiede mich.

Daheim fragt mich die, inzwischen nach Hause gekommene, Allerliebste, ob etwas Besonderes gewesen sei.

„Nein“, sage ich, „aber ich weiß was wir eines Tages erben werden.“


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Lesezeit ca.: 10 Minuten | Tippfehler melden | © Revision: 26. November 2012 | Peter Wilhelm 26. November 2012

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