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eichhörnchen

Wer hier aufmerksam mitliest, könnte den Eindruck gewinnen, dass ich ein gestörtes Verhältnis zu Senioren habe. Dieser Eindruck ist natürlich völlig falsch! Ich habe kein gestörtes Verhältnis zu Senioren, sondern ein total, vollkommen, absolut gestörtes Verhältnis.

Als Schriftsteller habe ich zugegebenermaßen mehr Freizeit als jemand, der jeden Tag in die Fabrik geht. Aber dennoch muss ich jeden Tag acht bis zehn Stunden arbeiten. Die meiste Zeit verbringe ich am PC, da ich den als Schreibmaschine verwende. Darüberhinaus telefoniere ich recht viel, um Lesungen zu terminieren, Fragen zu beantworten und mit Grafiker, Lektoren und dem Verlag alles unter einen Hut zu bringen. Allerdings mache ich das meiste von zu Hause aus.

Theoretisch könnte ich mehrmals in der Woche etwas länger schlafen. Das ist mir aber nicht vergönnt. Es sind die Renter ringsherum, die mich aus dem Bett treiben. Man kann es sich nicht vorstellen, was hier um unser Haus herum den ganzen Tag für ein Umtrieb ist. Es scheint so, als sei eine ganze Herde von Erdmännchen oder Eichhörnchen durch das frühe Morgenlicht geweckt worden und habe nun den ganzen Tag nichts anderes zu tun, als herumzuwuseln. Raus aus dem Bau, rein in den Bau, husch husch, Treppe rauf und Treppe runter, husch husch. Und das alles natürlich begleitet von dem für die hiesigen Eingeborenen typischen lärmenden Gequake.

Heute, um kurz nach sieben, ging es los. Direkt unter unserem Schlafzimmerfenster hatten sich zwei Frauen versammelt und lärmten für drei. Im klassischen Tratschen-Singsang erzählte die eine immer mit murmelnder Stimme, während die andere in höchstem Falsett immer „Ach was?“, „Neeee“ oder „Ei Ei Ei“ ruft, um ihrem Erstaunen Ausdruck zu verleihen.

Dieses monotone Geplapper, von dessen Inhalt man nichts verstehen konnte, hielt nicht sehr lange an, vielleicht nur eine Stunde. Das ist für die örtlichen Gegebenheiten nicht viel! Es war aber lang genug, um mich aus Mopheus Armen zu reißen und wach zu halten.

Nun gut, was soll? Ich muss eh noch was tun und morgens sind meine kreativsten Zeiten. Drei Kapitel für ein Kinderbuch müssen noch zu Papier gebracht werden. Also setze ich mich um 7.30 Uhr an meinen Rechner. Um diese Zeit waren es schon 17 Grad draußen, heute sollen es noch zehn Grad mehr werden. Natürlich steht dann die Balkontür offen. Ich kann dann schön auf die Bäume schauen, den den nahegelegenen Neckar säumen.

Doch vom leichten Rauschen der Bäume und dem Plätschern des Flusses, nur manchmal unterbrochen vom gleichmäßigen Tuckern der Schiffe, war nichts zu hören. Es wurde übertönt vom Lärm unserer Rentnerbrigade. In der Frühe waren nämlich die Müllmänner da und weiter vorne in unserer Straße stehen die leeren Tonnen. Sie stehen dort bereit für das wöchentliche Tonnenscheppern der Rentner. Zwei alte Männer treffen sich dort und schieben die Tonnen an ihre Standplätze zurück. Für die schätzungsweise 40 Meter brauchen die beiden gute 20 Minuten. Im Gegensatz zu den Frauen unterhalten sich Männer hier in der Gegend immer in vollster Lautstärke. Früher habe ich mich immer gewundert, warum sich hier so viele Männer auf der Straße streiten, weil die sich so anschreien. Heute weiß ich, dass die nur „ganz normal“ miteinander reden.

„Des konn doch jeder höre, was mir do schwätze!“, schrie mich mal einer freundlich an, als ich fragte, warum er denn so schreie. Ein anderer ’sagte‘: “ Wer flüstert, der hot Gehoimnisse, gell!“

Eigentlich haben diese Mülltonnen Räder und es ist überhaupt keine Kunst, die Tonnen nahezu lautlos zu bewegen. Diese Männer aber schaffen es, fast eine halbe Stunde Lärm und Geschrei zu veranstalten.

Kurz darauf setzte das Eichhörnchentreiben ein. Das ist freitags immer ganz besonders heftig. Ein Rentnerehepaar aus dem Nachbarhaus hat direkt vor meinem Haus seine Garage. Tor auf, Kofferraum auf, drei bis vier Mal Treppe rauf und runter, dann fahren sie weg. Allein schon das Wegfahren! Da quälen sich beide, Mann und Frau, in der engen Garage ins Auto. Er fährt dann das Auto unter 45-75 Lenkbewegungen vorsichtig aus der Garage und bleibt dann stehen. Dann muß sie, die Rentnerfrau, aussteigen und das Tor schließen. Nachdem sie wieder eingestiegen ist, steigt er dann aus und kontrolliert, ob das Garagentor auch richtig zu ist. Dann fahren die beiden endlich los.

So etwa 20 Minuten später kommen sie wieder. Sie steigt aus, öffnet das Garagentor und steigt wieder ein! Dann fahren beide in die Garage und steigen dann gemeinsam aus. Er geht dann nach oben. Die Rentnerin kräht dann Brocken des hiesigen Idioms zum Balkon hinauf, auf dem er mittlerweile Stellung bezogen hat.

Von dort gibt der Rentner seiner Frau offenbar Anweisungen, was nun zu tun ist. So genau weiß ich das nicht, weil ich aus den Dialektfetzen nur Haschu, Muschu, Kannschu raushören kann. Jedenfalls öffnet sie dann den Kofferraum, in dem sich die Einkäufe befinden. Es ist ein Klappkorb. In diesem Klappkorb befanden sich heute Morgen:

  1. ein Becher Magerjoghurt
  2. ein Kopfsalat

Es ist wirklich keine Übertreibung, wenn ich jetzt schildere, daß diese Frau tatsächlich zweimal die Treppen rauf und runter läuft, um sowohl den Joghurt, als auch den Kopfsalat einzeln nach oben zu tragen.

Kurz darauf kommt er dann runter und macht den Kofferraum zu, nachdem er den Klappkorb umständlich wieder zusammengeklappt hat und den kleinen Perserteppich auf dem Boden des Kofferraums an der Seitenwand der Garage ausgeklopft hat. Mit einem Handfeger fegt er noch den Kofferraum aus. Dann macht er die Garage zu und es ist tatsächlich für 15 Minuten Ruhe.

Es wäre aber kein Eichhörnchenspiel, wenn sich das ganze Spiel nicht wiederholen würde. Nach Ablauf der 15-minütigen Ruhezeit poltert und klappert es wieder unten an der Garage. Alles, was ich oben beschrieben habe, wiederholt sich in gleicher Weise und die zwei Rentner fahren wieder fort. Dieses Mal bleiben sie etwas länger weg. Das Ergebnis im Klappkorb: 5 Konservendosen und eine BILD-Zeitung.

Die Ruhezeit beträgt nun geschlagene 20 Minuten, dann kommen beide wieder runter. Er fährt seine Frau zum Arzt. Der ist nur drei Straßen weiter, deshalb bleibt er auch nicht dort, um auf seine Frau zu warten, sondern kommt gut fünf Minuten später wieder zurück. Garagentor auf, Garagentor zu. Wenig später sitzt er auf dem Balkon und liest die BLÖD-Zeitung.

Etwa eine Stunde später höre ich, daß bei ihm das schnurlose Telefon bimmelt. Ich verstehe, wie er sagt: „Wo bischen du? Ei, dann kumm isch disch hole. Bleib do!“

Nochmals zum besseren Verstehen: Der Mann hat seine Frau zum Arzt gefahren. Er weiß also genau, wo sie sich befindet. Deshalb ist die Frage: ‚Wo bist denn du?“ nicht nur absolut überflüssig, sondern auch noch schlichtweg doof. Es gibt jetzt natürlich mehrere Möglichkeiten, weshalb die Rentnerin ihren Mann angerufen haben könnte. Zum einen hätte sie ihm sagen können, dass sie an einer unheilbaren, nahezu sofort tödlichen Krankheit erkrankt ist und nicht mehr nach Hause kommt. Zum anderen hätte es sein können, daß sie ihm sagt, daß sie beim Arzt fertig ist. Hmmmm… Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass es so viele wahrscheinliche Varianten gibt, ist die Aussage: „Ei dann komm ich dich holen“ ebenfalls nur noch blöd. Der Gipfel ist aber die Aufforderung des Alten an seine Frau: „Bleib da!“
Ja, was soll die Alte denn machen? Soll sie inzwischen einen anderen kennenlernen und mit dem nach Guatemala durchbrennen???

Ich könnte diese Schilderungen endlos fortsetzen. So geht das hier den ganzen Tag! Und ich bin nicht nur von dem einen Rentnerpaar umgeben, sondern gleich von etwa 25 Rentnern!

Ruhe kehrt erst zwischen 12.30 und 14.30 Uhr ein, wenn die Alten sich schlafen legen.
Sie müssen dann Kraft schöpfen für die zweite Runde des Gewusels am Nachmittag.

© 22.9.2006


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Der erfolgreiche Buchautor Peter Wilhelm veröffentlicht hier Geschichten, Kurzgeschichten, Gedanken und Aufschreibenswertes.

Lesezeit ca.: 9 Minuten | Tippfehler melden | © Revision: 13. Mai 2016 | Peter Wilhelm 13. Mai 2016

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