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Papa schläft immer unterm Tisch

Irgendwie habe ich es geschafft, gestern den ganzen Tag nichts zu essen.
Ich bin ja einer der Menschen, die wenn sie aufgestanden sind, nicht sofort etwas essen wollen. Mein erster Hunger kommt erst so gegen elf Uhr und aufgestanden wir bei uns so gegen Sechs.

Gestern hatte die Allerliebste aber das Bedürfnis, mal ein belegtes Brot mit ins Büro zu nehmen und brav wie ich bin, habe ich ihr natürlich eins gemacht. Leberwurst wollte sie drauf haben, grobe Bauernleberwurst aus der Dose, die wir vor einigen Tagen an einem Verkaufswagen am Straßenrand gekauft hatten. Bauernleberwurst wird übrigens, anders als der Name es impliziert, aus Schweinefleisch hergestellt.
Und so sah sie auch aus. In der Dose befand sich quasi ein grob zerkleinertes Schwein. Ich habe meiner Frau ein Brot mit dieser Schweinemasse geschmiert, aber mir hat das erst einmal den Appetit verdorben.


So stellte sich mein Elf-Uhr-Hunger gar nicht ein und später hatte ich keine Zeit, ans Essen zu denken, weil ich der Allerliebsten irgendwann einmal versprochen hatte, die Küche zu streichen. Heute wollte ich sie damit überraschen. Das gestaltete sich etwas schwieriger, als erwartet. Die Allerliebste hat nämlich allerlei Sachen an den Wänden der Küche aufgehängt. Irgendwelche Sachen die die Kinder gebastelt haben, Küchenutensilien, Kalender, Uhren und anderes unnötiges Zeug. Das ist natürlich beim Streichen der Wände sehr unpraktisch und ich habe Stunden damit zugebracht, vorsichtig um die Sachen herumzustreichen.
Gegen zwölf kam Josie, unsere Jüngste von der Schule heim, sah mich und lachte mich aus. Ich solle den ganzen Plunder doch einfach von den Wänden nehmen, meinte sie. So ein vorlautes und altkluges Kind! Dieses Klugscheißen hat sie von ihrer Mutter! Was weiß so eine neunjährige Kröte schon vom Anstreichen? Sie hat ja überhaupt so viel von ihrer Mutter, dieses Vorlaute, das Großmäulige, das Plappern, alles! Dieses Kind, soviel steht fest, hat überhaupt nur Eigenschaften von der Mutter übernommen!

Ich hab‘ die Küchentür dann zugemacht, damit mich das kleine, altkluge Weib nicht weiter stört und vor allem damit sie nicht sieht, daß ich das Zeug von den Wänden nehme. In der Tat, es ging dann einfacher. Im Grunde ist Josie doch sehr clever und geschickt. Da sieht man mal wieder, daß das Kind sehr viel von ihrem Vater hat, das Geschickte, den blitzschnellen Verstand und vor allem eine natürliche Begabung für alles Handwerkliche! Wenn ich recht überlege, kommt sie ganz nach mir, quasi ein Abbild meiner Gene!

Jedenfalls blieb mir vor lauter Farbe, Pinsel und Lack keine Zeit, um etwas zu essen. Bis die Allerliebste nach Hause kommen würde, wollte ich nämlich fertig sein.
Inzwischen kam auch Rouven, unser Sohn, die erbberechtigte Frucht meiner Lenden von der Schule nach Hause und begutachtete mein weit fortgeschrittenes Werk. „Papa, warum hast du denn die ganzen Sachen von den Wänden genommen? Das dauert doch Tage, die alle wieder aufzuhängen! Ich hätte das alles hängen lassen und drum herum gestrichen.“

„Geh weg, du Kind deiner Mutter!“

Also wirklich! Dieses Kind ist genau so, wie seine Mutter. Ich meine, allein wenn Anke versucht, einen Kaffeelöffel in die Tasse zu stecken, besteht Gefahr für Leib und Leben; und wenn sie es schafft das Ganze zu bewerkstelligen, ohne einen von uns oder sich selbst zu verletzen, so ist es so sicher wie das Amen in der Kirche, daß sie die Hälfte vom Kaffee verschüttet, weil sie nach zwei Minuten vergessen hat, daß da ein Löffel in der Tasse steht und daran hängen bleibt.

Es ist mir, um auf das Tagesgeschehen zurückzukommen, gelungen zumindest alles anzustreichen, was die Allerliebste sehen kann. Sie ist ja bedeutend kleiner als ich und kann die Wände oberhalb der Schränke gar nicht sehen. Alles andere strahlt in frischem Gelb und es sieht alles sehr schön und sauber aus.
Wenig später höre ich den Schlüssel in der Wohnungstüre und bin sehr gespannt, was sie sagen wird. Sie begrüßt aber erst die beiden Kinder und den Hund, dann muß sie erst ihre Tasche abstellen und ihre Jacke aufhängen… Mein Gott! Ich warte mir in der Küche einen Wolf, sie muß mich doch vermissen, sie muß doch anfangen mich zu suchen und dann in die Küche kommen, wo ich sie mit dem Ergebnis meiner Arbeit überraschen will.
Nichts! Die Minuten vergehen und keine Sau sucht mich. Eine Frechheit!
Ich öffne die Küchentür einen Spalt und lausche. Nichts ist zu hören. Was macht die bloß?

Ich fühle mich an eine Geschichte aus meiner Kindheit erinnert. Damals war meine Mutter zum Einkaufen gegangen und ich hatte mich im Eßzimmer unter dem Eßtisch versteckt. Kinder lieben es ja, sich zu verstecken und freuen sich riesig, wenn die Mutter dann sucht und einen findet.
Meine Mutter kam aber nicht sofort wieder und es dauerte und dauerte. Aus Minuten wurde eine halbe Stunde, aber ich gab nicht auf. Lang ausgestreckt blieb ich unter dem Eßtisch liegen und wartete geduldig ab. Irgendwann muß ich eingeschlafen sein und so, friedlich schlafend, fand mich meine Mutter dann später vor.
Von da an stand unverrückbar fest, daß ich IMMER unter Tischen schlafe. Auch später noch, als ich längst ein erwachsener Student war, verabschiedete sie mich aus meinem Wochenendurlaub mit den Worten: „Und leg dich abends immer schön ins Bett, nicht daß du mir immer unterm Tisch schläfst!“
Eines anderen Tages hatte ich meine damalige Freundin Susanne das erste Mal mit nach Hause gebracht. Mutter unterzog sie ihrer typischen peinlichen Befragung und wollte schließlich auch wissen, wo Susanne denn wohne. Susanne antwortete, daß sie eine eigene Wohnung habe und meine Mutter sagte: „Ach ja, mein Sohn hat ja auch schon bei Ihnen übernachtet. Sagen Sie mal, schläft der bei Ihnen auch immer unterm Tisch?“
Später, ich war längst verheiratet und wir hatten schon beide Kinder, war meine Mutter bei uns zu Besuch. Sie lebte fast 400 Kilometer entfernt und blieb deshalb auch immer ein bis sechs Wochen. Jeden Abend, aber wirklich jeden Abend, wenn wir die Kinder zu Bett brachten, kam der Kommentar: „Aber legt mir die Kinder anständig ins Bett, nicht daß sie sich das auch angewöhnen, wie ihr Vater, immer unterm Tisch zu schlafen!“
Natürlich konnte sie es sich nicht verkneifen, der Allerliebsten und meinen Kindern von meinem schon zwanghaften Bedürfnis zu erzählen. Ich konnte reden was ich wollte, seitdem steht es auch in weiten Teilen meines Verwandten- und Bekanntenkreises fest, daß ich die Angewohnheit habe, immer unterm Tisch zu schlafen. Ich darf nichtmals mehr sagen, daß mir irgendein Knochen in meinem Körper weh tut, es kommt sofort die Antwort: „Kein Wunder, wenn man immer unterm Tisch schläft!“
Beim Elternsprechtag fragte mich sogar Josies Lehrerin, ob das religiöse Gründe habe, daß ich immer unterm Tisch schlafe. Die kleine Kröte, die bis dahin meine Tochter war, muß das in der Schule erzählt haben.
Aber auch Rouven kann seine vorlaute Klappe offenbar nicht halten. Neulich war einer seiner Freunde das erste Mal bei uns zu Besuch und ich mußte feststellen, daß der Junge mich mit neugierigen Augen anschaute und sein Blick immer mal wieder zu unserem Eßtisch wanderte.
Soll man sich für so undankbare Kinder sein Leben lang krummlegen, nur damit sie später mal was erben?

Vermutlich werden Generationen später meine Ururenkel ihren Kindern noch vom verschrobenen Opa Wilhelm erzählen, der immer unterm Tisch geschlafen hat.

Ich versichere jetzt mal hier und an Eides statt, daß ich seit jenem Vorfall im Jahre 1964, als ich als Kind ein einziges Mal unter einem Tisch eingeschlafen war, nie wieder unter einem Tisch geschlafen habe! (Auch wenn ich hin und wieder große Lust dazu verspüren würde!)

Jetzt stehe ich also in der Küche und warte, daß meine Frau mich sucht und findet. Glücklicherweise gibt es in unserer Küche keinen Tisch!
Auf einmal höre ich, wie die Allerliebste fragt: „Wo ist denn eigentlich der Papa?“

Josie, das vorlaute Teil kräht aus dem Kinderzimmer: „Der steht in der Küche und hat alles gelb angestrichen!“

Ratte!

Anke kommt in die Küche, schaut sich um, lächelt und sagt als Allererstes: „Oben über den Schränken mußt du aber noch streichen!“

Ja, so sind sie, die ich sonst meine Familie nenne. Ist es ein Wunder, daß ich eine Neigung zu Magengeschwüren habe?

Aber Anke gefällt die Farbe und sie umarmt mich: „Das hast du wirklich toll gemacht, Schatz.“

„Und er ist nicht einmal von der Leiter gefallen“, tönt Rouven aus dem Kinderzimmer. In meinem Kopf notiere ich: Keine Geschenke zu Weihnachten für die Kinder.

„Da hast du ja ordentlich was geschafft“, sagt die Allerliebste und meint: „Da wirst du jetzt bestimmt zu müde sein; eigentlich wollte ich mit dir essen gehen.“

„Nee nee, Hunger hätte ich schon“, versichere ich schnell und so kommt es, daß ich wenig später unter Dusche stehe und mich von den kleinen Farbspritzern säubere.

Tanassis, der Grieche empfängt uns überschwenglich und lehnt es ab, uns einen Tisch zuzuweisen: „Gutte Freunde, dirfen jedes Tisch nemme, hast du freie Aussewahl!“

Ich will nach rechts in das kleine Nebenzimmer, da ist es nämlich besonders gemütlich, doch Tanassis verstellt mir schnell den Weg: „Gehst du mit Frau an andere Tisch in Lokal, dasse kleine Simmer isse fir Nichteraucher!“

Tanassis hat also der kommenden Regelung vorgegriffen und ein eigenes Zimmer nur für Nichtraucher eingerichtet. Das finde ich praktisch, ich hatte nämlich schon befürchtet, daß man bei ihm gar nicht mehr rauchen dürfte. Das wäre zwar absoluter Quatsch, denn Tanassis betreibt einen original griechischen Holzkohlengrill offen in seinem Lokal und da qualmt es immer ein bißchen, dafür schmeckt aber auch alles besonders gut.

Ich freue mich, daß Anke zustimmt, daß wir eine Hausplatte nehmen. Da ist nämlich besonder viel drauf und ich bekomme mehr, als wenn ich nur einen normalen Teller bestelle. Außerdem habe sie, beteuert sie, sowieso keinen großen Hunger. Umso besser! Mir knurrt nämlich der Magen.

Die Platte kommt und sie nimmt sich „nur das Lamm, Schatz!“ und ich nehme erst einmal ein Stück Schweinelende. Den ganzen Rest würde ich dann so nach und nach vertilgen, mein Hunger ist gewaltig. Doch nach dem Lamm nimmt sich die Allerliebste noch etwas vom Rind, etwas von den Steaks und auch noch die käseüberbackenen Spieße.
Wenn wir mal viele Einkäufe nach Hause schleppen müssen, bin ich ja immer froh, so eine robuste Frau vom Lande, mit ungarischen Wurzeln, genommen zu haben; hier bei Tisch ist das eher nachteilig, denn diese Pusztaweiber haben auch einen gewaltigen Appetit.
Nunja, ich gestehe, daß ich dennoch genug bekommen habe und nach einer guten halben Stunde waren wir beide gesättig.
Tanassis bringt uns noch einen Mokka: „Trinken auffe Hausse!“
Wir bleiben trotzdem am Tisch sitzen. Ich meine: Mich beäugen alle die mich kennen, weil ich angeblich unterm Tisch schlafe und über die Griechen sagt man nix, obwohl die Mokka auf dem Haus trinken.

Ich schaue mich vorsichtig um, weil ich mir gerne eine Zigarette anstecken würde. Das möchte ich nämlich nicht tun, wenn am Nebentisch gerade jemand beim Essen ist. Aber der Alte am Tisch hinter mir raucht selbst und die vier Personen am Tisch mir gegenüber rauchen auch alle. Außerdem kommen noch zwei Männer herein, die auch in unserer Nähe Platz nehmen und sich eine Zigarette anstecken.
Wie ich feststelle, rauchen gerade alle Gäste. Also steht auch meinem Rauchgenuß nichts im Wege.

Gerade habe ich mir meine Zigarette angesteckt, da betritt ein Ehepaar von etwa 50 Jahren das Restaurant. Tanassis, der seine Gäste gerne mit Handschlag begrüßt und ihnen dann einen „beste Platze in ganze Lokal“ persönlich zuweist, lassen sie einfach unbeachtet stehen und stürmen mit großen Schritten quer durch das Restaurant.
Neben uns ist noch ein Platz frei, direkt am Fenster. Sie setzt sich, er behält seinen Mantel an und stapft herum.
Anke stößt mich unter dem Tisch mit dem Fuß an und fragt leise: „Was hat der denn für ein Problem?“

Was der für ein Problem hat, wir sofort offenbar. Er reißt das Fenster auf, wirft dabei fast die Blumendekoration auf der Fensterbank herunter und tönt: „Was ein Qualm, diese Raucher müssen eben leiden, wir brauchen einen rauchfreien Platz.“

Seine Frau fügt noch, in die Runde gewandt, hinzu: „Wir sind nämlich Nichtraucher!“

Tanassis eilt mit den Speisekarten herbei, schließt das Fenster wieder und sagt: „Misse Fenster zulasse bitte. Heizung läuft auffe volle Touren und ganze Hitz‘ geht naus!“

„Dieser Qualm, diese Raucher! Kennen sie denn das neue Gesetz noch nicht? Wir wollen rauchfrei essen!“

„Bittersehr, bitteschön“, sagt Tanassis: „Gehe mit in andere Simmer, nebenan isse wunderschöne Nichterauchersimmer.“

„Wir wollen doch nicht ungemütlich ganz alleine sitzen“, meckert die Nichtraucherin.

„Neine, nicht alleine, da sinte noch andere Leut‘ und isse gemutlich, habe ich extra schöne Brunnen in Simmer gebaut, isse sehr schön!“

Der Nichtraucher geht mal gucken, seine Alte bleibt am Tisch sitzen, die eine Hand schon wieder am Fenstergriff, mit der anderen wedelt sie sich vor der Nase herum.
Tanassis Augen blitzen und sagen: „Wenn du auch nur den Versuch machst, das Fenster zu öffnen, schlitzt dich mein Schwager, der in der Küche arbeitet, von oben bis unten auf!“

Offenbar versteht die Alte diese stummen Signale und läßt vom Fenster ab. Stattdessen wickelt sie sich jetzt ihren Schal um Mund und Nase und blickt sich, ihren Mann suchend, um.
Der kommt aus dem Nebenzimmer und schreit durch das ganze Lokal: „Komm, Isolde, hier ist es rauchfrei!“

Isolde steht auf, raunzt Tanassis an: „Na also, es geht doch!“ und geht zu ihrem Mann ins Nichtraucherzimmer.

Tanassis hat ein triumphierendes Grinsen im Gesicht, geht zur Theke und holt eine Kiste schöner Zigarren aus dem Schrank. „Nemme sie, geht auffe Hausse“, sagt er und schenkt jedem Gast eine besonders dicke, übelriechende, griechische Zigarre.
Die Griechen können ja vieles, nur im Zigarrenmachen sind sie nicht gerade besonders gut. Die Dinger stinken, wie brennender Kamelmist und entwickeln einen Qualm als würde man einen ganzen Regenwald brandroden.

Aber sogar die Allerliebste pafft so ein Ding und einmal mehr bewundere ich diese große, starke Frau. Mal sehen, vielleicht kann ich sie später zu Hause überreden zu mir unter den Tisch zu kriechen.


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Lesezeit ca.: 16 Minuten | Tippfehler melden | © Revision: 26. November 2012 | Peter Wilhelm 26. November 2012

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