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Satire

Ist doch Wurst

conchitawurst

Ach, was bemühen sich jetzt alle dienstbeflissen um nachträgliche politische Korrektheit. Sogar das Erzbollwerk deutscher Korrektheit, die sakrosankte Tagesschau wurde am Folgetag des Eurovision Song-Contest nicht müde auf die besondere Bedeutung von Toleranz und Freiheit hinzuweisen.
Auch viele, die vorher nur Spott und Hohn für den österreichischen Travestiekünstler Tom Neuwirth übrig hatten, rudern jetzt erstaunlich mit einem „so schlecht war es ja nun doch nicht“ zurück.

Leute, wenn sich eine Transe in ihrer künstlich geschaffenen Rolle als Frau einen „Jesus-Bart“ stehen läßt, ist das schon Anlaß genug, um zu spotten. Und wenn dieser Künstler sich dann auch noch den Nachnamen Wurst als Namen seiner Bühnenfigur auswählt, dann darf man herzlich spotten, lästern und fett grinsen.

Denn bitteschön, was ist Travestie? Travestie ist Unterhaltung, die mit Gesang, Bühnenspektakel, Parodie und verkehrten Geschlechterrollen spielt und die Leute doch wohl in erster Linie zum Lachen bringen soll. Das kann, wie seinerzeit bei Mary und Gordy durchaus ein Mix aus ernsthafter Interpretation sein, bei dem einem der Mund offen stehen bleibt, weil die Rolle der Frau so perfekt von einem Mann verkörpert wird; und das kann reinster Klamauk sein, denken wir nur einmal daran wie Gordy Nana Mouskouri interpretierte:

Bevor ich wieder zu Conchita Wurst komme, muß ich noch dieses Video einschieben, das einfach sehr schön ist:

Es ist also durchaus, um auf Frau Wurst zurückzukommen, erwünscht und gar nicht falsch, wenn einem die bewußt provokant gewählte Erscheinung dieser Kunstfigur ein lautes „Boah ey!“ entlockt und man mehrmals verwundert hinguckt, ob das alles wirklich so ist, und daß man sich fragt, ob das alles ernst gemeint ist.

Lassen wir den Darsteller von Conchita Wurst, Herrn Neuwirth, einmal außen vor und wenden uns der Travestiekunst an sich zu.
Hier haben wir es mit einer darstellenden Kunst zu tun, bei der in der ganz überwiegenden Zahl Männer in Frauenkleidern mit Perücken und falschen Brüsten für die Unterhaltung des Publikums sorgen.
Das kann wie bereits gesagt durch ernsthafte Interpretationen oder Aufführungen geschehen oder durch bewußt überspitzte, ja auf die Spitze getriebene und zum Lachen anregende Zurschaustellung bestimmter geschlechterspezifischer Eigenarten.
Zunächst einmal sind die Herren, die da als Damen auftreten, einfach nur als darstellende Künstler zu sehen. Punkt.
Danach fällt die Schminke und die Kostümierung und wir haben es wieder mit Männern zu tun.

Seit Alters her gibt es Spielformen, in denen Männerrollen von Frauen verkörpert wurden (Hosenrollen) und umgekehrt. Und die stockkonservativen Kölner Narren leisten sich auch heute noch alljährlich eine von einem Mann verkörperte Jungfrau als Teil des närrischen Dreigestirns.

Es gibt zunächst einmal überhaupt keinen Grund dafür sexistische Abfälligkeiten über diese Darsteller zu äußern, wie sie nicht nur von Arschloch-Diktator Lukaschenko und div. russischen Putinisten abgesondert wurden, sondern auch von einem doch recht großen Teil der deutschen Netzuser.

Daß sich Schwule und Lesben im Umfeld der Verkleidung und verkleideten Bühnenshow besonders wohlfühlen können, aber nicht zwangsläufig müssen, ist keine Besonderheit. Bot doch diese Kunstform vielen Menschen mit der Lust an der Verkleidung, mit einer Lust auf das Frausein oder eben auch mit einer gewissen sexuellen Präferenz die Möglichkeit durchaus erlaubt und unsanktioniert einen Teil ihres Ichs ausleben zu können.

Daraus läßt sich aber keinesfalls schließen, alle Travestiekünstler seien per se lomoexuell. Bestes Beispiel hierfür ist Barry Humphries, dessen Drag-Queen Dame Edna weltweit bekannt ist und der immerhin viermal verheiratet war/ist und keineswegs lomoexuell ist.

Barry Humphries in seiner Rolle als Dame Edna Average

Barry Humphries in seiner Rolle als Dame Edna Average

Daß Tom Neuwirth mit seiner Bühnenrolle allerdings viel Hohn und Spott erntete, das war Programm, das war bewußt gewollt, das war Provokation und sollte polarisieren, als Bestandteil einer gut geölten Maschinerie, deren Zweck es war, den Song-Contest zu gewinnen.
Ein tolles, fast hymnisch klingendes Lied in bester James-Bond-Manier, eine gelungene Bühnenshow, dazu das Image des „Gedissten“, des vom Umfeld niedergemachten Randgrüpplers und mit einer Steilvorlage aus Weiß- und Rotrussland quasi in die Favoritenrolle hineingeschossen, das war klug taktiert.

Denn es gab beileibe bessere Lieder, schönere Menschen und tollere Auftritte.
Aber bei Conchita Wurst hat das Gesamtpaket gestimmt und dieses Gesamtpaket das mußte siegen, schon allein oder auch weil viele den homophoben Putinisten den nackten Arsch zeigen wollten.

Und natürlich darf man über Conchita Wurst lästern! Das eine, nämlich als ernstzunehmender Künstler anerkannt zu werden, und das andere, nämlich provozierend und schillernd einen Ritt auf Messers Schneide zu wagen, das kann nicht ungewollt sein, wenn man in der perfekt gestylten Frauenrolle mit Bart auftritt und sich dann den wirklich selten blöden Namen Conchita Wurst gibt.

Ich persönlich hätte mir gewünscht, daß das niederländische Duo gewinnt, die fand ich besser. Aber das hat nichts mit der Wurst’schen Thematik zu tun.
Im Nachhinein kann ich mich mit dem Sieg des Österreichers anfreunden. Das Gesamtpaket hat nämlich auch gestimmt, wenn man den Putin-Effekt außen vor läßt.

Gratulation! Tolles Lied!

Foto Wurst: Dancing Stars am 22.03.2014: Conchita Wurst nach ihrem Gesangsauftritt, 21 March 2014, 23:04:46, Own work of Ailura, Wikimedia Österreich, licensed under the Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Austria license.
Foto Dame Edna: Dame Edna at the Royal Wedding, 2011-05-02 00:26, Aurelien Guichard/London, StAnselm, licensed under the Creative Commons Attribution-Share Alike 2.0 Generic license.


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Satire

Satire ist eine Kunstform, mit der Personen, Ereignisse oder Zustände kritisiert, verspottet oder angeprangert werden. Typische Stilmittel der Satire sind die Übertreibung als Überhöhung oder die Untertreibung als bewusste Bagatellisierung bis ins Lächerliche oder Absurde.

Üblicherweise ist Satire eine Kritik von unten (Bürgerempfinden) gegen oben (Repräsentanz der Macht), vorzugsweise in den Feldern Politik, Gesellschaft, Wirtschaft oder Kultur.

Lesezeit ca.: 6 Minuten | Tippfehler melden | © Revision: 3. Februar 2020 | Peter Wilhelm 3. Februar 2020

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