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Die kranke Pippi Langstrumpf

Ach Herrjeh, das Bübchen ist krank! Mein Großer (13) hat Halsweh und Fieber und leidet sich einen Wolf.
Bei Dr. Kimmelkorn waren wir noch gar nicht, weil die schwerwiegende und äußerst schreckliche Erkrankung des Bubens ausgerechnet gestern, am Wochenende, anfing. Ich weiß aber auch so, was Dr. Kimmelkorn sagen würde: „Das geht jetzt rum, das haben jetzt viele!“
Das sagt er immer, egal was die Kinder haben, ob Halsweh, Bauchweh oder Brechdurchfall (wobei ich hier einfliessen lassen muss, dass unsere Kleine eher an Sprechdurchfall leidet…).

Nun habe ich ja schon diverse Theorien über die unterschiedliche Leidensfähigkeit von Männer und Frauen aufgestellt. Wir alle wissen und akzeptieren in tiefster Demut, daß Frauen natürlich viel leidensfähiger sind, bei weitem mehr aushalten und selbstverständlich noch trotz schwerer Erkrankung auf dem Felde stehend und Rüben hackend, Kinder gebären können, während wir Männer schon bei der geringsten Kleinigkeit weinerlich zusammenbrechen. Is klar…

Jetzt geht es aber nicht um Männer und Frauen, sondern um die zwei bezaubernden kleinen Wesen, die erst noch ein Mann und eine Frau werden wollen, nämlich unsere Kinder.

Aus der plötzlichen Erkrankung des Jungen ergibt sich nämlich für das Mädchen, die kleine 9-jährige das Problem, daß sie für eine Weile nicht mehr die Prinzessin ist und etwas abseits steht. So würde man das vielleicht objektiv betrachten. Tatsächlich kümmern wir uns, wie es sich für Anhänger des bohemienen Lebens gehört, sowieso nicht um unsere Kinder, sondern fröhnen stets nur in Dekadenz ausgiebig unserem Hedonismus. So sehen es wenigstens die Außenstehenden. Warum das so ist, schreibe ich weiter unten.

Der Große liegt also mit Fieberwickeln im Bett und leidet. Er bekommt Fiebersaft, Zäpfchen und Tabletten und zwar alles biologisch korrekt in die jeweils dafür vorgesehenen Körperöffnungen. Diese Art der medizinischen Zuwendungen weckt aber nun den Neid unserer Kleinen. Die will jetzt auch was haben, damit man sich auch um sie kümmert, damit auch sie einmal mehr im Mittelpunkt stehen kann.
Aus diesem Grunde ist Josie gestern Abend an „Finger“ erkrankt. Während Rouven den ganzen Tag schon das Bett hüten musste, konnte Josie nicht vor gestern Abend erkranken, weil sie nachmittags noch auf ein Sommerfest wollte. Aber danach ging es schlagartig los:

„Papa, ich habe Finger!“

Ihr Finger sah so aus wie immer, mit Gummibärchen, Tomatensauce und Himbeersaft verschmiert, also nichts Ungewöhnliches. Trotzdem habe ich ihn gedrückt, daran gezogen und ihn verbogen und kam zu dem wenig überraschenden Ergebnis, daß der Finger absolut in Ordnung ist. Aber der tiefe innere Schmerz, der unsere Tochter zu dicken Kullertränen brachte, kam eindeutig vom kleinen Finger der rechten Hand.

Ich kenne das schon und weiß, daß ich mit irgendwelchen Sprüchen wie „Ein Indianer kennt keinen Schmerz“ da nicht weiterkomme. Für diesen Zweck haben wir eine Packung gefährlich aussehender Milchzuckertabletten aus dem Hause Placebo und eine große Tube Hautpflegesalbe. Mal muss man die Tabletten kauen, mal ganz schlucken, mal in Wasser auflösen, je nachdem was man so hat.
Ich entschied mich für das Lutschen, das ganz langsame Lutschen, also mehr so das Zergehenlassen im Mund, weil das wenigstens für 10 Minuten den Sprechfluß meiner Kleinen hemmte. Danach trug ich ihr noch etwas von der Hautpflegesalbe auf den Finger auf, nicht ohne dazu zu sagen, daß das jetzt ein bißchen brennen könne.
Das sage ich immer dazu. Zwar kann Panthenol-Salbe nicht brennen, aber wenn der Placebo-Effekt richtig wirkt, kommt Josie garantiert nach einigen Minuten und sagt: „Papa, die wird schon ganz warm!“
Ja denn…

Immerhin wars Kind zufrieden ob der huldvollen Zuwendung und genas dann doch schneller, als ich es gedacht hatte. Schon heute Morgen kann sie das gestern noch beinahe abgefaulte Körperteil wieder bewegen und bis zum Anschlag in die Nase stecken.
Milchzucker ist eben ein Wundermittel, das muß man schon sagen.

Eben will die kleine Zottelhexe das Haus verlassen, um eine Freundin zu besuchen. Das geht mir alles zu geschwind, ich bekomme sie kaum zu sehen und sie ruft schon „Tschüß, Papa“.

„Haaaalt, hierher!“

„Oh Menno“, sagt Josie von der Tür aus und kommt zurück.

Da steht sie vor mir: Ungekämmtes, verzotteletes Haar, Winterschuhe an den Füßen, obenrum ein gelbes Büstier welches so knapp ist, daß es nichtmals einer ihrer zahlreichen Barbiepuppen passen würde und die rote Hose von der Oma an den Beinen.
Diese rote Hose muß die Oma in einem Anfall geistiger Umnachtung oder unter dem Einfluß einer überdosierten Menge irgendwelcher geriatrischen Mittel gekauft haben. Im Grunde ist die Hose weiß, dreiviertellang, aber über und über mit roten und rosa Blüten bedeckt.
Eigentlich für ein Mädchen ganz hübsch. Nur ist es so, daß die Oma diese Hose für unseren Sohn gekauft hat und das Allerschlimmste an der Situation: unser Sohn war dabei und findet diese Hose geil!
Erst meine liebevoll vorgetragene Drohung, ihn beizeiten zu kastrieren, hat ihn davon abgehalten, dieses Schwuchtelteil nochmals anzuziehen.

Daraufhin hat Josie diese Hose für sich entdeckt, allerdings ist ihr diese viel zu weit und zu lang oder zusammenfassend gesagt: viel zu groß.
Deshalb hat sie beim ersten Anprobieren auch mit dem Fuß statt der Beinöffnung die Hosentasche erwischt, ordentlich gezogen und den Hostentaschensack nach außen aus der Hose herausgetreten und -gerissen. Die Hose ist also seitlich aufgerissen und richtig kaputt.
Die oben beschriebene Farbverirrung ist der Grund, warum wir eine Reparatur ablehnen.

Das scheint aber meine Tochter nicht weiter zu stören, sie hat diese Hose jetzt an und erweckt insgesamt den Eindruck, als habe sie nicht nur unter der Brücke geschlafen, sondern sei auch noch das Opfer eines wahnsinnigen Tätowierers geworden. Dieser Eindruck kommt dadurch zustande, weil das Kind sich beide Arme mit einem Edding-Stift angemalt hat und zwar so etwa von den Fingerspitzen, bis an die Schultern.

So geht sie offenbar häufiger fort und nicht immer sind wir da, um kontrollieren zu können, wie sich dieses Zigeunerkind herausgeputzt hat. Manchmal ist es so, daß wir den ordnungsgemäßen Zustand des Kindes kontrollieren, das Haus verlassen und das Kind sich in unserer Abwesenheit in die geisteskranke, kleine Schwester von Nina Hagen verwandelt.

Im Vergleich zu meiner Josie wäre Pippi Langstrumpf geradezu elegant, könnte man sagen.

Diese Art sich zu kleiden ist mit einer der Gründe, warum die Menschen in unserer Nachbarschaft davon überzeugt sind, die Allerliebste und ich lägen den lieben langen Tag im Rausche des Cannabis in den Federn und würden unsere Kinder vernachlässigen.

Was soll ich tun? Ich kann sie ja unmöglich in diesem Aufzug nach draußen lassen.. Oder vielleicht doch?
Ich habe mir überlegt, daß man der Kleinen eine heilsame Lektion erteilen müsste und lasse sie nach kurzer Inspektion ziehen.
Sie will zu einer Freundin und dann gemeinsam mit der auf ein Kinderfest im nahen Schlosspark.

Zwei Stunden später hole ich sie dort ab.
An den Füßen habe ich meine alten Springerstiefel, an den Beinen meine alte lederne Motorradhose und darüber einen kurzen Wickelrock von der Allerliebsten. Meinen nackten Oberkörper zieren nur die Hosenträger und um den Hals trage ich meinen Schalke-Schal.
Auf dem Kopf trage ich eine geölte Elvis-Perücke und einen lächerlich kleinen Tirolerhut.

So gewandet tauche ich auf dem Kinderfest auf, um meiner Tochter den erwünschten heilsamen Schock zu verpassen. Das wird wirken! Sie wird nie mehr bunt wie ein Ara auf die Straße gehen, da bin ich mir sicher!

Ich komme also in den Schlosspark und halte Ausschau nach meiner Kleinen, da tönt durch die Lautsprecher die Durchsage: „Und jetzt ist er da, Pippo der verrückte Clown aus der Schweiz!“ und jemand stößt mich auf die kleine Bühne. Hunderte von Kindern und Eltern applaudieren und meinen ganz eindeutig mich…

Eine ganz lange Stunde lang habe ich jongliert, den Affen gemacht und den Blödian gegeben, es hat allen gefallen und ich musste noch zwei Zugaben hinlegen.
Gut, mein Plan ist in die Hose gegangen, das gebe ich zu. Es hat mir letztlich auch nicht viel ausgemacht, die Kinder zu erfreuen, nur eins hat mich tief in der Seele getroffen, nämlich daß ich ein Schweizer sein soll. Das geht wirklich zu weit!

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Lesezeit ca.: 9 Minuten | Tippfehler melden | © Revision: 26. November 2012 | Peter Wilhelm 26. November 2012

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