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Das Stövchen

Anke wirft ja nix weg. Es ist eine Katastrophe, was diese Frau so alles sammelt und aufhebt. Ihre Sammlung blauer Flaschen ist legendär und wir sind nur durch einen Umzug bei Nacht und Nebel vor einigen Jahren den mehrmals wöchentlich eintreffenden Blauflaschen-Verehrern entgangen, die mit Reisebussen unsere Straße belagerten.

Beim Einkaufen beispielsweise achte ich schon von vornherein darauf, dass keines der Produkte in einer Verpackung enthalten ist, die man in irgendeiner Weise wiederverwenden könnte. Milch kaufe ich nur in diesen unpraktischen labberigen Plastiksäcken, Kartons würde die Allerliebste bestimmt aufheben und weiterverwenden. Das heißt: Eigentlich verwendet sie die Sachen nur sehr selten weiter, sie hebt sie nur auf, weil man sie ja irgendwann einmal verwenden könnte.
Wenn der Russe mal kommt, dann wird es uns nicht schlecht gehen, ehrlich nicht, denn wir haben Millionen von blauen Flaschen, Krautsalat-Plastikdosen und Blauschimmelkäse-Dosen, die man vortrefflich eintauschen kann.

Und was tut das Dreibein? Ich werfe den Scheiß weg!

Mal ganz im Vertrauen gesagt: Immer wenn die Sammlung wieder um ein weiteres Dutzend wunderschöner Exemplare gewachsen ist, werfe ich zwei Dutzend älterer Exemplare einfach in den Müll, egal ob es Flaschen sind, Dosen oder Schraubgläser.
Glücklicherweise hat sich Anke abgewöhnt, nachts aufzustehen und die Bestände einem unangekündigten Zählappell zu unterziehen.
Weniger wird der Krempel dadurch aber nicht, komisch.

Manchmal sind es aber auch Sachen, die sie gar nicht sammelt, sondern die wir einfach so haben, an denen ihr Herz hängt. In diesem speziellen Fall handelt es sich um ein Adventsstövchen.

Dieses Adventsstövchen aus dem Erzbegirge besteht aus buntem Glas mit eingegossenen Heinzelmännchen. Offenbar hatte der ostdeutsche Glaskünstler aber irgendeine seltene, farbverfälschende Krankheit. Anders ist es nicht zu erklären, dass es weltweit keine einzige Farbe gibt, die er nicht in diesem Stövchen verarbeitet hat. Dass es sich um ein Adventsstövchen handelt, sieht man vor allem an den vier kleinen Tannenbäumchen, die die Füße des Ganzen bilden. Zu allem Überfluss und aus völlig unverständlichen Gründen haben die erzgebirgischen Geschmacksvergewaltiger in diesen Kannenwärmer auch noch eine Spieluhr eingebaut, welche die amerikanische Nationalhymne spielt.
Insgesamt besteht das Stövchen aus dem Grundgestell, einer Bodenplatte mit der Spieluhr, dem Aufsatz, einem Abdeckblech und einem Obergestell mit Eiszapfen in Kodak-Color.

Dazu muss ich unbedingt Folgendes erklären: Das blöde Ding steht mir in der Küche nur im Weg. Es ist mir schon mehrfach in alle Teile zerfallen, sodass ich es immer wieder zusammenbauen musste und ich habe es schon dutzende von Malen von einem Schrank in den anderen geräumt, es ist immer im Weg. Vor allem nervte es mich deshalb, weil es in den unpassendsten Momenten einige Takte der amerikanischen Hymne von sich gab. War die Spieluhr einmal aufgezogen, spielte sie nie ganz bis zu Ende und irgendwann, vielleicht wenn George W. Busch niesen oder pupsen musste, spielte sie ein paar Töne. Viel schwerer wiegt aber die Tatsache, dass wir überhaupt gar keine Kaffeekanne besitzen, die wir auf diesem Kannenwärmer wärmen könnten! Wir verwenden ausschließlich Thermoskannen und die sind aus Plastik. Jedenfalls kann man die nicht auf dieses Erzgebirgeteil stellen.

So reifte schon vor Jahren in mir der Entschluss, das Ding einfach zu entsorgen. Das klingt aber leichter, als es ist: Ich erinnere nur an die unangekündigten Zählappelle der Allerliebsten und manchmal bekommt sie zu Ostern die Idee, nur mal eben nachzuschauen, ob das Stövchen noch da ist.
Also habe ich das Stövchen in eine Schachtel gepackt und auf dem Küchenschrank ganz hinten an die Wand gestellt, dort wo die Allerliebste garantiert nie hinschaut. Das war schon vor zwei Jahren und siehe da: Die Allerliebste scheint den abscheulichen Kannenwärmer tatsächlich vergessen zu haben. Deshalb war die Gelegenheit günstig, als neulich mal wieder das Altglas abgeholt wurde. In einer schmucken Aldi-Tüte habe ich das Ding eigenhändig in der Altglastonne versenkt. Beinahe hätte mich beim Raustragen ein leises Kling-Klang verraten, denn durch das Einpacken in die Tüte gab die eingebaute Spieluhr noch ein paar Töne der Ami-Hymne von sich.
So starb das Stövchen wenig später zu den Klängen von „…and the home of the brave…“ einen nahezu lautlosen Tod in der Presse des Altglaswagens.

Endlich habe ich Ruhe und Platz in der Küche. Mir scheint es fast, als sei sie um ein, zwei Quadratmeter größer geworden und erst da wurde mir bewusst, wie sehr mich die erzgebirgische Glaskunst innerlich belastet hat.

Jetzt ist es Dezember, genauergesagt Anfang Dezember und die Allerliebste sagt unverhofft zu mir: „Du, wo ist eigentlich das schöne Stövchen von Tante Irmgard aus dem Erzgebirge?“

„Keine Ahnung, irgendwo wird es schon sein.“

„Dann such es!“

Ich tue in solchen Fällen immer so, als ob ich suche. Das mache ich so zehn Minuten lang, dann verkünde ich mit neutralem Tonfall den Mißerfolg meiner Suchaktion. Oft hilft das, in diesem Fall jedoch animiert meine Gelassenheit die Allerliebste dazu, selbst auf die Suche zu gehen.
Ich höre, wie sie in der Küche alle Schranktüren auf und zu macht, herumkramt und mit sich selbst (oder mit mir?) herumplappert:

„…so schöne Melodie“

„wäre doch jetzt genau die Zeit…“

„…immer so schön geleuchtet…“

„…Tante Irmgard…“

Man muß sie dann plappern und suchen lassen, das geht nämlich immer ganz schnell vorbei. So ausdauernd ist die Allerliebste nämlich nicht. Leider ist das aber dieses Mal nicht der Fall, sie sucht geschlagene zwei Stunden und bezieht auch das Bade- und das Schlafzimmer mit in ihre Suche ein.
Als sie verkündet: „Du, wenn ich es jetzt nicht finde, dann muss ich dein Arbeitszimmer auf den Kopf stellen“, schließe ich mich vorsichtshalber der Suchaktion an.

Abends sitzt meine kleine Steppenläuferin auf dem Sofa. Männer wissen, was es bedeutet, wenn Frauen mit angezogenen Knien auf dem Sofa sitzen, eine Tasse Tee in den Händen halten und mehrmals hintereinander auf den heißen Tee pusten. Oft können wir schon am Takt des Pustens erkennen, was gleich kommt.

„Duhu, ich will unbedingt in diesem Jahr das Stövchen von Tante Irmgard aufstellen.“

„Wenn wir es aber doch nicht finden…“

„Dann müssen wir eben ganz doll suchen, es kann doch nicht weg sein.“

„Meine Güte, wir haben das doch die letzten Jahre auch nicht aufgestellt.“

„Da war Tante Irmgard ja auch noch nicht tot.“

„Entschuldige mal, die ist schon seit zehn Jahren tot, toter geht’s gar nicht!“

„Siehste, jetzt haste es selbst gesagt, sie ist genau zehn Jahre tot, sie hat also Todestag.“

„Also wirklich, haben wir Tante Irmgard überhaupt gekannt? Die hat die letzten 20 Jahre ihres Lebens niemanden mehr ins Haus gelassen und mit ihrer Standuhr gesprochen.“

„Ja und? Sie hat uns aber was vererbt!“

„Ach, was denn? Ihr Haus haben wir nicht gekriegt, keinen Schmuck und keine Gemälde…“

„Aber das Stövchen!“

„Nein, das stimmt nicht. Das Stövchen haben wir von deiner Mutter gekriegt. Sie sagte damals, das sei von Tante Irmgard und sie wolle es ohnehin wegschmeißen.“

„Aber es ist von Tante Irmgard, das Stövchen.“

„Sag mal, hast du Tante Irmgard überhaupt gekannt?“

„Nur vom Erzählen, aber was soll diese Frage? Es war die Schwester meines Vaters…“

„Deiner Mutter!“

„Ja, von mir aus auch das…“

„Ach komm, du kanntest die nicht, sie war dir immer egal und jetzt machst du so ein Theater wegen dem Stövchen.“

„Es ist eben ein Andenken und ich WILL es dieses Jahr aufstellen.“

So wie sie das Wort WILL sagt, ist mir sofort klar, dass etwas geschehen muss. Wenn sich meine kleine Halbungarin nämlich etwas in den Kopf gesetzt hat, dann könnte nur eine Lobotomie helfen, um es wieder herauszubekommen. Was mir bevorsteht, ist sonnenklar: Die ganze Adventszeit über, vermutlich bis Pfingsten, würde sie tagtäglich herumjammern, wo denn das Stövchen der seligen Tante Irmgard sei…

Am nächsten Tag fahre ich zu Rolf, dem Trödler, und frage nach erzgebirgischer Stövchenkunst. Rolf hat alles! Nur leider keine Stövchen aus dem Erzgebirge. Er hat eins aus blauem Porzellan aus Frankreich, sogar eins mit Spieluhr aus England, aber keins davon ist so häßlich, dass man es Anke als Tante Irmgards Stövchen „verkaufen“ könnte.

Also muss ich in die Stadt. Aber selbst auf dem größten Weihnachtsmarkt der Region werde ich nicht fündig. Zwar steht dort ein Händler aus dem Erzgebirge, aber der will mir nur einen Schwibbogen verkaufen. Das ist so ein gebogenes Teil mit weihnachtlichen Motiven, das man ins Fenster stellen kann. Diese Schwibbögen sehen zwar sehr schön aus, aber ich finde den Namen Schwibbogen dermaßen häßlich, daß ich sowas schon wegen des Namens nicht kaufen würde. Außerdem haben Schwibbögen keinerlei Ähnlichkeit mit Tante Irmgards Schrecklichkeit.

Eine ältere Dame hat mein Gespräch mit dem Erzgebirgler mit angehört und mischt sich ein: „Sie, Glasstövchen gibt’s bei Munz.“

Munz kenne ich. Munz ist das größte und auch teuerste Geschäft für Haushaltswaren und Porzellan. Größer und teurer geht’s gar nicht.

Der Verkäufer bei Munz sieht aus wie ein schwuler Oberkellner und erinnert mich an Willi Fritsch.

Mit hochgezogenen Augenbrauen hört er sich an, wie ich mein Anliegen vortrage. Dann lässt er mich wortlos stehen und geht weg. Ich denke, dass ich ihn vielleicht mit meinem Ansinnen beleidigt habe und es möglicherweise unter der Würde des Hauses Munz ist, Glasstövchen aus dem Erzgebirge zu verkaufen. Gerade will ich auch gehen, da steht Willi Fritsch schon wieder vor mir. Er hält zwei Schachteln in den Händen und sagt: „Wenn sie freundlicherweise einmal schauen wollen.“

Ich kann kaum glauben, dass er wirklich zwei dieser grauenvollen Stövchen auf Lager hat.
„Dass sie das haben…“

„Mein Herr, das ist Glaskunst aus Zürrtzschnatzsch, weltberühmt!“

Das eine Stövchen, das er auspackt, sieht völlig anders aus, als das was wir hatten, aber immerhin spielt es die amerikanische Hymne. Das zweite jedoch ist das absolute Ebenbild von Tante Irmgards Kannenwärmer. Ich bin begeistert! Allerdings erfährt meine Begeisterung einen empfindlichen Dämpfer, als ich höre, dass dieses Stövchen den Flohwalzer spielt. Kurz davor, mich quer über die gepflegte Ladentheke des Hauses Munz zu übergeben, bin ich jedoch, als Willi Fritsch sagt: „320 Euro.“

In mir sackt alles zusammen, äußerlich bewahre ich Haltung. Was kann ich tun? Welche Alternative habe ich? Der Verkäufer ist nicht bereit, die beiden Spieluhren, die man herausziehen kann, zu tauschen und wenn ich ohne so ein Stövchenteil nach Hause komme, blühen mir etliche schlaflose Nächte.

Eine Stunde später bin ich zu Hause, 640 Euro ärmer und dabei, die Spieluhren zu tauschen. Das überzählige Stövchen schenke ich Herrn Mubatai im Nachbarhaus. Die Mubatais sind Zuwanderer aus einem Land, das wir nicht kennen und sie sprechen eine Sprache, die offenbar außer den Mubatais kein anderer versteht. So besteht wenigstens keine Gefahr, dass sie mich verraten.

Immerhin bin ich jetzt wieder im Besitz eines Stövchens, das dem von Tante Irmgard zum Verwechseln ähnlich sieht und das die amerikanische Hymne spielt. Ich plaziere es im Wohnzimmerschrank.

Abends bitte ich die Allerliebste um etwas Kerzenlicht, denn ich weiß, dass die Kerzen im gleichen Fach des Schrank liegen.

„Schatz!“ ruft sie, „Schau hier, da ist ja das Stövchen von Tante Irmgard!“

„Ach was?“

„Ja, ach ist das toll!“

Die Freude ist wirklich riesengroß und die leuchtenden Augen meiner Frau entschädigen mich dann doch für den herben finanziellen Verlust, den die Anschaffung von gleich zwei Stövchen für mich bedeutet. Für meine Allerliebste ist mir nichts zu teuer!
Weihnachten ist gerettet!

Es ist Nikolaus. Anke dekoriert den Tisch mit den süßen Gaben für unsere Kinder. Unter anderem hat sie eine schöne Keksdose gekauft, für wenige Euro, in der eine Spieluhr eingebaut ist, die „Oh du fröhliche“ spielt.

„Wo ist denn das Stövchen von Tante Irmgard?“ frage ich.

„Ach das…“

„Ja, das! Wo ist es?“

„Weißt du, jetzt wo ich es wiedergefunden habe, hat es mir gar nicht mehr gefallen. Eigentlich sah es doch ganz bescheuert aus und wer will an Weihnachten schon die amerikanische Nationalhymne hören?“

Ich ahne Schreckliches und frage: „Was, liebe Frau, hast du mit dem Stövchen gemacht?“

„Das habe ich den Mubatais von nebenan geschenkt, die sind doch noch neu im Land und können sowas bestimmt gut gebrauchen.“

Gestern habe ich die Stövchen wieder gesehen. Die Mubatais haben sie an bunten Bändern ins Fenster gehängt. Fast schon glaubte ich, leise die Spieluhren hören zu können.

Mehr satirische Geschichten findest Du hier im Index und natürlich im aktuellen Buch des Autors Peter Wilhelm, das Du im Buchhandel oder hier bestellen kannst.

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Lesezeit ca.: 14 Minuten | Tippfehler melden | © Revision: 16. Juli 2013 | Peter Wilhelm 16. Juli 2013

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